SCHWEIZ: Ein Plädoyer für kritische Recherche

von Recherchekollektiv WAV, 10.03.2024, Veröffentlicht in Archipel 334

Als Recherchepartner für Redaktionen und die Zivilgesellschaft schafft das WAV Recherchekollektiv Transparenz und trägt zu einer informierten öffentlichen Debatte bei. In der Krise des Journalismus ist WAV ein Versuch, fundierte Recherche in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Ein Einblick in unsere Arbeit.

Wieso schickt die Schweiz private Ermittler zu den Taliban? Zu welchen Bedingungen arbeiten die Frauen, die im solothurnischen Neuendorf Zalando-Retouren aufbereiten? Und wieso zieht ein Schweizer Agrarmulti in Mexiko gegen Kaffeeproduzent·innen vor Gericht?

Das sind nur einige der Fragen, die das WAV Recherchekollektiv im letzten Jahr auf Trab hielten. Um sie zu beantworten, studierten wir Handels- und Arbeitsverträge, stellten Einsichtsgesuche via Öffentlichkeitsgesetz, sprachen mit Betroffenen oder konfrontierten die Entscheidungsträger im Hintergrund. Wir, das sind Annika, Balz, Jenny, Lorenz, Luca, Nada, Osama, Reto und Sophie. Was vor mehr als drei Jahren mit der Vision begann, mündete im Januar 2022 in der Publikation unserer ersten Recherche: Voller Tatendrang nahmen wir uns mit BlackRock die weltweit grösste Vermögensverwalterin vor (ja, der Vorwurf des anfänglichen Grössenwahns ist rückblickend durchaus angebracht).

Weil Hintergründe Geschichten erzählen

Das Projekt mit dem Namen «Spotlight on BlackRock» konnte aufzeigen, wie mächtig die öffentlichkeitsscheue Firma ist. Eine Auswertung von Investitionsdaten machte klar: BlackRock war zu diesem Zeitpunkt nicht nur die grösste Aktionärin von UBS und CS, sondern überhaupt die grösste Investorin in der Schweiz.

Was bedeutet es, wenn ein einzelnes Unternehmen einen wesentlichen Anteil einer Volkswirtschaft hält? Oder wenn es gegen aussen Nachhaltigkeit preist, aber Milliarden in fossile Energien pumpt? Geleitet von diesen Fragen, veröffentlichten wir auf der Webseite www.spotlightonblackrock.ch sieben Datensätze und organisierten Diskussions-Workshops für die Zivilgesellschaft. Das Ziel: Interessierte sollten die Daten nutzen und damit weiterarbeiten können. Seither ist viel passiert, mehr als 30 Projekte zählt WAV mittlerweile. Doch «Spotlight on BlackRock» legte in vielerlei Hinsicht den Grundstein für die Arbeit unseres Recherchekollektivs. Es sind nicht die lauten Skandalgeschichten, die am meisten bewirken. Wir sind überzeugt: Es sind die Hintergründe, die tiefschürfenden Recherchen, die zu einer transparenten und informierten öffentlichen Debatte beitragen.

Wie das gleichnamige Audiodateiformat, das Aufnahmen unkomprimiert und damit «verlustfrei» speichert, möchte WAV ganze Geschichten erzählen. Und wir möchten sie so erzählen, dass andere damit weiterarbeiten können: Kritische Recherche heisst für uns nicht nur Wissen zu recherchieren, sondern auch aufzubereiten und öffentlich zugänglich zu machen.

Transparenz für alle!

Diese Idee stand auch am Anfang von «das Geld + die Politik», dem bislang grössten WAV-Projekt. Obschon Geld in der Politik oft Match-entscheidend ist – man denke etwa an nationale Plakatkampagnen oder Massenversände – war die Schweiz in Sachen Politiktransparenz lange Zeit ein Negativbeispiel. Im letzten Herbst kam dann endlich Bewegung in die Sache: Neu müssen National- und Ständeratskandidat·innen sowie nationale Parteien und Abstimmungskomitees ihre Finanzen zumindest teilweise offenlegen.

Ein Meilenstein? Jein. Denn die veröffentlichten Daten sind, der restriktiven Gesetzgebung geschuldet, ohne Aufbereitung nur schwer verständlich. Wer genau finanziert nun unsere Politik? Und wie viel Geld ist hier eigentlich im Spiel?

Die Antwort auf diese Frage muss für alle Interessierten einfach zugänglich und verständlich sein. Mit diesem Ziel im Kopf bauten wir gemeinsam mit unseren Partner·innen von investigativ.ch, Lobbywatch und Opendata.ch ein Online-Tool für mehr Finanztransparenz (www.moneyinpolitics.ch): Das Tool nimmt die roh publizierten Daten, bereinigt sie und bereitet sie visuell ansprechend und einfach durchsuchbar auf. So kann jede·r mit nur wenigen Klicks nachschauen, wer mit wie viel Geld Politik macht, und wo dieses herkommt.

«Das Geld + die Politik» und «Spotlight on BlackRock» sind Beispiele dafür, was wir als «gemeinnützige Rechercheprojekte mit und für die Zivilgesellschaft» bezeichnen: Sie sollen – gerade in Zeiten von Fake News – die Recherchekompetenzen der Zivilgesellschaft stärken und uns allen ermöglichen, unsere Meinung selbst zu bilden und zu überprüfen. Projekte wie diese sollen auch in Zukunft ein wichtiger Pfeiler der Arbeit von WAV bleiben.

Unabhängige Recherchekapazitäten

Einen zweiten Pfeiler bilden unsere journalistischen Rechercheprojekte. In Zusammenarbeit mit Journalist·innen und Redaktionen recherchiert WAV Geschichten zu spezifischen Themen – Themen, die ansonsten im medialen Alltagsgeschäft oft unter den Tisch fallen.

Der Journalismus ist die vierte Gewalt jeder Demokratie. Er hinterfragt kritisch, klärt auf und stellt die Mächtigen zur Rede. Gleichzeitig sieht er sich mit grossen Herausforderungen konfrontiert: Der durch die Digitalisierung befeuerte Informationsüberfluss birgt ein riesiges Potenzial für Machtmissbrauch und Falschinformation. Hinzu kommt eine Konzentration der Medienbranche: Viele Medienunternehmen funktionieren immer mehr wie Konzerne, besitzen zahlreiche «Marken», die Profit abwerfen müssen. Immer weniger Medienhäuser leisten sich immer weniger Recherche. Die Folge: Klickzahlen und Agenda-Setting von Interessenverbänden bestimmen die Themenwahl, gesponserte Artikel von Unternehmen sind oft kaum mehr von journalistischen Beiträgen zu unterscheiden. Es drängt sich die Fragen auf: Geht es noch um gesellschaftliche Relevanz, oder immer mehr um das gezielte Bespielen von Interessengruppen?

Kurzum, der Journalismus steckt in der Krise. Das hat Auswirkungen darauf, wie und worüber berichtet wird. Gewisse Themen erreichen nur noch selten die Aufmerksamkeitsschwelle der Redaktionen und Fakten werden immer öfter durch Kampagnen- und Lobbyarbeit aufbereitet. Das finden wir ein Problem. Denn unabhängige Themenwahl und fundierte Recherchen sind essenziell, damit der Journalismus seiner Kontrollfunktion in der Demokratie gerecht werden kann. Natürlich können wir als junges Kollektiv diese Probleme nicht im Alleingang lösen. Doch wir möchten das uns Mögliche zu einer Veränderung beitragen, anstatt einfach dem Status Quo zuzudienen. Ein Blick auf Projekte wie Correctiv (D), FragdenStaat (D) oder Lighthouse Reports (NL) zeigt: Es braucht einen kritischen und interventionistischen Non-Profit-Journalismus. Auch in der Schweiz. WAV ist der Versuch, kritische und unabhängige Recherchekapazitäten aufzubauen. Was dabei herauskommen kann, zeigen die folgenden zwei Beispiele.

Den Mächtigen auf die Finger schauen

Google ist ein Gigant, auch in der Schweiz. Doch was treibt Google eigentlich in Zürich, an seinem grössten Standort ausserhalb der USA? Welche Ziele verfolgt Google in der Schweiz? Gemeinsam mit der Online-Zeitung «Republik» und der Denkfabrik «Dezentrum» suchten wir nach Antworten. Entstanden ist die zehnteilige Rechercheserie «Do not feed the Google».

Am Anfang der Suche stand eine Beobachtung: Google entwickelt sich prächtig in Zürich. Was mit einer Briefkastenfirma begann, sind heute über 5000 «Zoogler». Doch wie kam es so weit? Das herauszufinden, war für uns ein äusserst lehrreicher Prozess. Wir nutzten Rechercheinstrumente wie das Öffentlichkeitsgesetz und führten unzählige Gespräche, on und off the record.

Es zeigte sich: Google wurde und wird hofiert in Zürich. Warum sucht eine rot-grüne Stadtregierung die Nähe zu einem vielkritisierten und intransparenten Konzern, der die Daten seiner Nutzer·innen «kolonisiert» (so der Vorwurf)? Weil uns bei der Stadt dazu niemand Auskunft geben wollte, haben wir zahlreiche Dokumente angefragt und veröffentlicht, die diese demokratiepolitisch fragwürdige Ansiedlung und ihre Folgen nachzeichnen. Herausgekommen ist eine Geschichte von Limousinenfahrten durch Zürich, Cocktails in der Kronenhalle und Treffen mit Steueranwält·innen – organisiert und bezahlt von Stadt und Kanton Zürich.

Unsichtbares sichtbar machen

Doch es sind nicht nur die mächtigen Konzerne und grossen Bühnen, wo sich die relevanten Geschichten abspielen. Sie tun dies auch im Privathaushalt, am Fliessband, im Nagelstudio oder im Asylzentrum: Prekäre Arbeit war und ist ein weiterer Rechercheschwerpunkt von WAV. Sie ist in unserer Gesellschaft oft unsichtbar – und sie wird überdurchschnittlich oft von Frauen und Migrant·innen geleistet.

WAV möchte hier genauer hinschauen. So haben wir für das Magazin «Beobachter» Schweizer Retourenzentren unter die Lupe genommen, wo Angestellte unter hohem Zeitdruck täglich hunderte Zalando-Retouren kontrollieren und aufbereiten. Während mehrerer Monate haben wir mit aktuellen und ehemaligen Angestellten dieser Zentren gesprochen, Logistikdienstleister angeschrieben und Arbeitsverträge eingesehen. Es zeigte sich: Hinter dem entpersonalisierten Online-Einkaufserlebnis stehen Frauen, die am Fliessband harte Arbeit leisten. Befeuert durch den hohen Preis- und Zeitdruck des Onlinehandels ist ihre Arbeit von ausserordentlich tiefen Löhnen, unsicheren Pensen und hohem Leistungsdruck geprägt.

Durch Berichterstattung intervenieren

Transparenz ist zentral für eine gerechte Gesellschaft. Denn wo relevante Informationen im Verborgenen bleiben, ist keine kritische Debatte möglich. Diese Überzeugung leitet unsere Arbeit. In zeitgemässen Formaten und in Zusammenarbeit mit anderen wollen wir auch in Zukunft über die Macht von Konzernen, über versteckte Entscheidungsprozesse und über Ausbeutungsverhältnisse berichten. Kurz: Wir wollen Non-Profit-Journalismus betreiben, der durch Berichterstattung interveniert. Doch das ist gar nicht so einfach. Denn Recherche ist aufwändig. Sorgfältige Vorrecherchen und gute Planung eines Projektes, aber auch organisatorische Arbeiten für unsere kleine Genossenschaft bleiben oft unbezahlt. Dabei sind sie für unsere Arbeit zentral. Hinter WAV stehen keine Werbekunden, Mäzen·innen oder Lobbyorganisationen, sondern die Zivilgesellschaft.

Deshalb wollen wir für einmal nicht für ein Recherchethema, sondern für WAV selbst mobilisieren. Wir wollen weg vom prekären Lohnmodell der Gegenwart und einen Modus finden, der uns Zeit und Raum gibt: Dafür, Themen spezifisch auszuwählen, uns in den Bereichen Öffentlichkeitsgesetz, Finanzflüsse und Datenjournalismus weitere Expertise anzueignen – und diese Expertise in Zusammenarbeit mit unseren Partner·innen für kritische Recherche zu nutzen. Der Ausbau von Recherchekapazitäten soll es zukünftig auch möglich machen, Anfragen mit geringem oder ohne Budget aufzugreifen – und damit insbesondere auch zivilgesellschaftliche Recherchen mitzutragen. Dafür brauchen wir Unterstützer·innen – Privatpersonen, Organisationen, Vereine. Alle, die unsere Vision teilen, laden wir ein, das Projekt WAV mitzutragen.

WAV Recherchekollektiv (wav.info)

P.S. Wir lassen ungern Fragen unbeantwortet, also nochmals zurück an den Anfang: Dass die Frauen im Zalando-Retourenzentrum unter Hochdruck und zum Tiefstlohn arbeiten, haben wir schon verraten. Währenddessen schickt die Schweiz private Ermittler zu den Taliban, um «falsche» Familienzusammenführungen aufzudecken – auch wenn sie dadurch Betroffene gefährden. Unsere Recherche in der ZEIT zeigte: ein absolut unnötiges Risiko. Und zum Schluss noch zum Waadtländer Agrarmulti ECOM: Dessen Tochterfirma würde den Kaffeepreis unter das Existenzniveau drücken, monierten die mexikanischen Kaffeebauern und organisierten Proteste gegen die Firma. Daraufhin wurden sie angeklagt.

P.P.S. Damit Sie die Antworten auf unsere Recherchefragen immer direkt hören: Wir haben einen Newsletter: wav.info/newsletter Diesem Archipel liegt ein Flyer zur Unterstützung unserer Arbeit bei.