KURDISTAN: Literarisch und solidarisch

von Constanze Warta, EBF, 15.03.2024, Veröffentlicht in Archipel 334

Während die türkische Armee ihre Angriffe auf Nordsyrien unter fast völliger Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit verstärkt, hat in Marseille ein Treffen zur Unterstützung der Kurd·innen stattgefunden, die unter einer stark zunehmenden Repression in der Türkei und massiven Bombenangriffen in Nordsyrien leiden.

Zu dem Treffen am 13. Januar hatte das Kollektiv «Stimmen für den Frieden in Kurdistan» eingeladen. Als erstes fand eine grosse Konferenz in der Bibliothek Alcazar im Zentrum von Marseille statt, deren Ziel vor allem darin bestand, auf zwei öffentliche Stellungnahmen bzw. Appelle aufmerksam zu machen, die eine friedliche Lösung der kurdischen Frage proklamieren. Nach der Konferenz begaben wir uns in die Buchhandlung Maupetit zu einem literarischen Treffen, bei dem einige der Unterzeichner·innen des Appells über ihre Arbeit berichteten und ihre Werke vorstellten mit anschliessender Diskussion. Der erste Aufruf war im letzten Herbst in der Türkei von 78 türkischen und kurdischen Persönlichkeiten unterzeichnet und veröffentlicht worden. Der zweite wurde dann am 7. Januar in Frankreich in der Tageszeitung Libération veröffentlicht, unterzeichnet von über hundert Persönlichkeiten, wie z.B. der Schriftstellerin und Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, dem Regisseur Robert Guédiguian, der ersten stellvertretenden Bürgermeisterin von Marseille Michèle Rubirola, dem Künstler Ernest Pignon-Ernest und dem Soziologen und ehemaligen Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen Jean Ziegler. In Marseille sprachen und lasen mehrere Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die den Aufruf unterzeichnet hatten, sowie ein ehemaliger kurdischer Bürgermeister, der in Frankreich im Exil lebt, sowie die Soziologin und Dichterin Pinar Selek. Auch die musikalischen Intermezzi zwischen den sehr berührenden Stellungnahmen trugen zum guten Gelingen dieser Begegnung voller Poesie und Solidarität ihren Teil bei.

Constanze Warta

DER AUFRUF

Lassen wir nicht zu, dass ein Massaker ein anderes verdeckt!

Vor kurzem haben 78 kurdische und türkische Journalisten, Künstler, Intellektuelle und Menschenrechtsverteidiger einen Aufruf gestartet, um auf die Dringlichkeit einer friedlichen Lösung aufmerksam zu machen. Wir erkennen ihren Mut an, da sich die Lage in Kurdistan immer weiter zuspitzt und der Friedensappell von 2016*, «Wir werden keine Komplizen dieses Verbrechens sein» von der türkischen Regierung als terroristische Propaganda bezeichnet worden war und zur Verfolgung der Unterzeichner·innen führte. Unser Ziel ist es, die Stimmen für den Frieden zu verbreiten, zu schützen und zu stärken. In einem Kontext, der von einer militaristischen Politik und der Banalisierung aller Schrecken geprägt ist, nehmen die Brennpunkte extremer Gewalt im Nahen Osten immer mehr zu. Nach der ethnischen Säuberung der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach, die von der internationalen Gemeinschaft gleichgültig hingenommen wurde, müssen wir nun hilflos mit ansehen, wie die militaristischen Mächte die israelische und palästinensische Bevölkerung mit Gewalt und Massakern überziehen.

Den Teufelskreis von Gewalt durchbrechen

Die extremen Gewaltherde, die den Nahen Osten entflammen, sind weder voneinander noch vom Rest der Welt isoliert. Sie sind in den Netzen eines globalisierten Militarismus gefangen und sind die Glieder einer Kette von nationalistischen Ideologien. Lassen wir nicht zu, dass die Kette immer länger wird und sich schliesst. Lassen wir nicht zu, dass ein Massaker ein anderes verdeckt. Wir müssen alles tun, um den Teufelskreis von Gewalt und Hass zu durchbrechen, bevor es zu spät ist. Bevor ein Schrecken nach dem anderen hinzukommt. Im Einklang mit anderen Stimmen, die sich auf der ganzen Welt erheben, um einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas sowie Frieden im Nahen Osten zu fordern, erheben wir unsere Stimmen, damit das kurdische Volk nicht vergessen wird.

Heute berichtet die Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien (AANES), dass die türkische Armee zwischen dem 5. und 9. Oktober 2023 massive Operationen in diesen Gebieten durchgeführt hat – 580 Luft- und Bodenangriffe wurden gezählt –, bei denen Dutzende Zivilist·innen getötet und systematisch sowohl die Infrastruktur zerstört wurde, die Millionen von Menschen mit Wasser und Strom versorgt, als auch Schulen und Verwaltungsgebäude.

Erstickte Stimmen

Die AANES «fordert alle Beteiligten in Syrien, die Institutionen der Vereinten Nationen, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen nachdrücklich auf, eine entschiedene Haltung gegen das Vorgehen der Türkei einzunehmen.» Jeden Tag zählen die Kurd·innen ihre Opfer. Währenddessen werden auf der anderen Seite der Grenze zehntausende politische Gegner·innen, vor allem Kurd·innen und hauptsächlich Frauen – darunter Parlamentsabgeordnete und Bürgermeisterinnen –, in die Gefängnisse des autoritären türkischen Regimes gesperrt, das jede Stimme für den Frieden ersticken will. Die türkische Regierung schürt absichtlich die Wut des kurdischen Volkes, indem sie Abdullah Öcalan, den Führer der kurdischen Bewegung, der eine entscheidende Rolle bei den Friedensverhandlungen 2013 und 2015 gespielt hat, in völliger Isolation im Gefängnis hält. Seit dreissig Monaten gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm.

Wir nehmen die alarmierenden Signale eines weiteren Krieges ernst, der unkontrollierbare Ausmasse annehmen könnte, und werden zusammenkommen, um zu zeigen, dass es noch nicht zu spät ist. Wir werden uns versammeln, weil wir die Vernichtung eines Volkes verhindern müssen und um die Stimmen des Friedens, die aus der Türkei und der ganzen Welt kommen, laut und deutlich zu verkünden.

Das Kollektiv «Stimmen für den Frieden in Kurdistan», mit der Unterstützung zahlreicher Intellektueller

  • Mehr als 1.000 türkische Akademiker·innen unterzeichneten Anfang 2016 einen Appell für Frieden in den Kurdengebieten der Türkei. Gegen mehr als 100 von ihnen wird teilweise heute noch in Istanbul und Diyarbakır der Prozess gemacht. Der Vorwurf: Der Friedensaufruf sei Terrorpropaganda gewesen.