LIBANON: Auf der Asche des Systems

von Martina Widmer u. Nicholas Bell, EBF u. Longo maï, 13.11.2022, Veröffentlicht in Archipel 319

Auf Einladung unserer Freundinnen und Freunde von Buzuruna Juzuruna (Unsere Samen sind unsere Wurzeln) verbrachten wir vom 11. bis 21. September zehn Tage in der libanesischen Bekaa-Ebene in einer grünen Oase menschlicher Gastfreundschaft.

Seit sechs Jahren betreibt das Team von Buzuruna Juzuruna (BJ), das aus Libanes·inn·en, syrischen Geflüchteten und Französ·inn·en besteht, auf einem zwei Hektar grossen Bauernhof in Saadnayel in der Nähe von Zahlé eine Vielzahl von Aktivitäten: Saatgutproduktion, Suche nach lokal angepassten Sorten, Verkauf von Gemüsekörben und Blumensträussen in Beirut, verschiedene Schulungen (Kompost, natürliche Behandlungsmethoden, Saatgutgewinnung), Unterstützung von syrischen Geflüchteten in Lagern, Aktivitäten für Kinder (Zirkus in einem Zelt), ein weiterer Garten in Saadnayel, der von rund 20 Familien bewirtschaftet wird; Unterstützung von Bauerninitiativen in Syrien.

Die Leute von BJ sind eng mit den Bewegungen verbunden, die an der «Revolution» beteiligt waren, welche im Oktober 2019 ausgebrochen war. Mehrere Monate lang wurden die Plätze in vielen Städten besetzt und unter anderem wurde die Frage der Ernährungsautonomie aufgeworfen. BJ wird im Libanon immer bekannter. Sie bieten oft Filmabende an und organisieren jedes Jahr ein Festival und Treffen auf dem Hof. Viele Menschen wenden sich mit diversen Anfragen an sie. Das Land, das sie bearbeiten, ist jedoch gepachtet und sie wissen nicht, ob sie die Pacht verlängern können. In Saadnayel gilt der Pachtvertag noch sechs Jahre.

Die Freundinnen und Freunde von BJ sind zu einem Punkt gekommen, an dem sie viel darüber nachdenken, wie sie ihr Projekt weiterentwickeln können. Sie wollten Abstand gewinnen und sich über die positiven und negativen Aspekte ihres Projekts und seiner Funktionsweise austauschen. Sie wollen ein Netzwerk von Saatgutproduktionsstätten in verschiedenen Regionen des Landes aufbauen, um ihre Sammlungen dauerhaft zu erhalten. Deshalb luden sie uns und Biaugerme, ein atypisches und originelles Saatgutunternehmen aus dem Departement Lot-et-Garonne, zu sich ein.

Projekte und Begegnungen

Seit einem Jahr bringt das von BJ initiierte Netzwerk Saatgutproduzent·inn·en an fünf sehr unterschiedlichen Orten mit ungleichem Wissen und Können zusammen. Ein wichtiger Teil unseres Programms bestand darin, diese Gruppen oder Einzelpersonen zu treffen, uns mit ihnen auszutauschen und gemeinsam über eine geeignete Form des Netzwerks nachzudenken; mit welchen Strukturen oder Mechanismen für Koordination, Ausbildung und Wirtschaft. Wir konnten vier dieser Projekte kennenlernen. Die meisten werden von jungen, eher städtischen Menschen geführt, die oft auch andere Berufe ausüben, aber Alternativen und Hoffnungsschimmer in einem Land schaffen wollen, das von einer unvorstellbaren Krise heimgesucht wird. In einer Zeit, die von einer sehr starken Auswanderung geprägt war, entschieden sich viele dafür, gerade deshalb in ihre Heimat zurückzukehren, um zur Entstehung anderer Perspektiven beizutragen, die mit den Forderungen und Träumen der Revolution verbunden sind.

Zwei der Projekte werden von Kollektiven geführt, eines in 1500 Metern Höhe und das andere an einem wunderschönen Bergort mit einem Bach, der das ganze Jahr über fliesst. Die beiden anderen Projekte werden von Einzelpersonen betrieben. Eine sehr mutige junge Frau bewirtschaftet acht Dunums (zehn Dunums entsprechen einem Hektar), unweit von BJ in Saadnayel und produziert Gemüse für den Verkauf und Saatgut für BJ. Sie ist wild entschlossen, gegen die Umweltverschmutzung zu kämpfen, die das Leben in der Bekaa verpestet.

Das andere Projekt wurde von einem älteren Bauern initiiert, der begann, sich für die Saatgutproduktion und eine naturnahe Landwirtschaft zu interessieren. Er sieht sich mit der tiefen Krise der Landwirtschaft konfrontiert, die nicht mehr einträglich ist. Er erklärte, dass vor der Krise viel Land nicht bewirtschaftet wurde, aber derzeit alles bearbeitet wird. Doch durch die Inflation werden die Preise für Betriebsmittel und importiertes Hybridsaatgut unerschwinglich. Ausserdem importieren Unternehmen Tomaten und anderes Gemüse in grossen Mengen aus Ägypten und drücken damit die Preise. Es ist dringend notwendig geworden, nicht-hybrides, lokal produziertes Saatgut zu finden. Zudem sucht er für BJ nach Land für den Getreideanbau. Das BJ-Team und dessen Partner·innen in diesem Netzwerk waren sehr interessiert an den Beobachtungen und Vorschlägen der beiden eingeladenen Gruppen. Wie organisieren sich Saatgutnetzwerke in Frankreich, wie Kokopelli, Biaugerme oder das Netzwerk Réseau Semences Paysannes? Wie wird mit Spannungen und Konflikten umgegangen?

Hier kamen die Erfahrungen von Biaugerme besonders zu Geltung. Hier sind 27 Saatgutproduzent·inn·en von dreizehn Höfen vereint, die ein beeindruckendes Sozialmodell mit Grundsätzen wie «solidarische und unbestimmte Verantwortung», Gewinn- und Verlustbeteiligung, Gleichwertigkeit der Tätigkeiten, mehrere Kommissionen, darunter die «Garanten des Gemeinguts» oder die «Ständige Animationskommission», die die monatlichen Treffen vorbereitet und leitet, gemeinsam verwirklichen. Wir waren von den vielen Berichten der Menschen berührt, die unsere, ins Arabische übersetzten Saatgutfilme, welche kostenlos unter www.diyseeds.org erhältlich sind, regelmässig nutzen.

Einen Tag verbrachten wir in Saida, einer grossen Stadt an der Küste südlich von Beirut, wo wir an einem «Abschiedsfest» von einem Grundstück im Zentrum der Stadt teilnahmen, auf dem in den letzten zwei Jahren ein Gemeinschaftsgarten, ein Ort für kulturelle Veranstaltungen, zum Auftanken und Spielen für Kinder entstanden war. Leider weigerte sich der Eigentümer, den Mietvertrag zu verlängern, und die Gruppe sucht nun nach einem anderen Grundstück, was nicht einfach ist.

Eine vielschichtige Krise

Die verschiedenen Begegnungen ermöglichten es uns, mehrere Regionen dieses kleinen Landes zu entdecken, das zu den am dichtesten bewohnten der Welt gehört und sehr kontrastreiche Eindrücke hervorruft. Ein Land, das vom Meer und zwei Bergketten geprägt ist, mit der weiten und fruchtbaren Bekaa-Ebene, aber auch von all den Plagen, die aus einem bankrotten wirtschaftlichen, sozialen und politischen System resultieren, das kurz vor der totalen Implosion steht. Der Müll, der sich überall türmt, wird nicht eingesammelt, es gibt keine Wasseraufbereitung, was zu einer entsetzlichen Verschmutzung führt, die das Baden im Meer unmöglich macht und Flüsse und Ströme wie z.B. den Litani in Kloaken verwandelt. Hektik auf den Strassen mit rasenden Autos. Berge, die von riesigen Steinbrüchen ausgeraubt werden, um Rohstoffe zu liefern, vor allem für die Wiederaufbau-Baustellen in Syrien. Die rasante Urbanisierung, welche die Berge und die reiche Bekaa-Ebene mit tristen Gebäuden aus Beton und Leichtbausteinen überzieht, mit Fassaden aus dünnen Steinschichten, ohne jegliche Isolierung. Die täglichen Stromausfälle – in Saadnayel sind es etwa acht Stunden, in Beirut jedoch bis zu zwölf Stunden pro Tag.

Hie und da sieht man die luxuriösen Häuser der kleinen Schicht der sehr Reichen, die von der Krise profitieren, umgeben von perfekten grünen Rasenflächen und Stacheldraht. Man spürt, dass die Wut über die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, auch nur ansatzweise eine Lösung für diese vielschichtige Krise zu finden, wächst. Doch die Energie wird vor allem auf das Überleben gerichtet. Die meisten Arbeitsplätze schaffen es kaum noch, ein halbwegs angemessenes Leben zu sichern. Taxifahrer·innen zum Beispiel können mit ihren Einkünften die Benzinkosten nicht mehr decken, denn die Inflation ist schwindelerregend hoch. Vor nicht allzu langer Zeit war ein Dollar 1.500 libanesische Pfund wert. Heute braucht man 40.000, um einen Dollar zu erhalten. Ein 100.000 Pfund-Schein ist 2,5 Euro wert. Allein während unseres Aufenthalts stieg der Wechselkurs von 35.000 auf 40.000.

Die Allgegenwart der verschiedenen politisch-religiösen Kräfte ist überwältigend. Oft sieht man entlang der «Autobahn» (die vierspurigen Strassen, die die Bekaa und auch die Küstenregion durchziehen) an jedem Laternenpfahl über ein oder zwei Kilometer hinweg Fahnen, die der lokal vorherschenden Kraft entsprechen. Oder die unzähligen riesigen Plakate mit den Köpfen von Politikern und Milizionären, die den zivilen und bewaffneten Arm der Hisbollah, der christlichen «Libanesischen Kräfte» usw. darstellen. Jede Nacht wird einem die Macht der Religion um vier Uhr morgens durch die Muezzins aufgezwungen, die, aus mehreren Moscheen in der Nähe, zum Gebet aufrufen.

Eine weitere wichtige Tatsache ist die Anwesenheit von etwa 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten in einem Land mit einer Bevölkerung von vier Millionen. Mehr als die Hälfte der Geflüchteten befinden sich in der Bekaa-Ebene (800.000), wo es Arbeit gibt, vor allem in der Landwirtschaft. Geprägt von der Geschichte der palästinensischen Geflüchteten-Lager, die eine dauerhafte Präsenz schaffen konnten, lehnt die Regierung jede Formalisierung des Status der syrischen Geflüchteten-Lager ab. Es handelt sich lediglich um informelle Siedlungen mit durchschnittlich zehn Zelten, die aus Paletten und UN-Planen zusammengebastelt wurden und in der Hitze des Sommers und der Kälte des Winters für die Menschen nur schwer zu ertragen sind. Die Bekaa-Ebene liegt immerhin 1000 Meter über dem Meeresspiegel.

Wann wird es angesichts dieser Situation zur nächsten Explosion kommen? Wann werden die Menschen wieder auf die Strasse gehen? Die jüngste Serie von Banküberfällen, bei denen Sparer·innen versuchten, ihre eigene Bank dazu zu zwingen, ihnen das Geld auf ihrem Konto zurückzugeben, zeigt, dass die Passivität der Bevölkerung Grenzen hat. Gleichzeitig muss man sagen, dass die aktuelle Situation, in der das System unbestreitbar bankrott ist, paradoxerweise Offenheit, Aussichten auf Veränderungen und alternative Wege schafft. Die meisten Menschen haben kein Vertrauen mehr in die Behörden und glauben nicht, dass die Lösung von dieser Seite kommen wird. Wir trafen zwei Freunde von Serge (Mitglied von BJ), einen in Tripolis und den anderen in Buda’i1, die sehr stark in den Aufstand von 2019 involviert waren.

Raum zum Gestalten?

Hamze: «Es stimmt, dass es eine Massenauswanderung gibt, dass es einen Kollaps gibt, aber das Ergebnis von all dem ist, dass wir dadurch Raum zum Gestalten haben. Das bedeutet, dass man auf der Asche dieses Systems, das immer weiter zusammenbricht, sehr schöne Dinge aufbauen kann, die solider sind, weil sie nicht mehr im Rahmen der Regierung und des Regimes sind, sondern mit dem Volk, Dinge, die von unten kommen. Es muss bekannt werden, die Öffentlichkeit muss informiert werden, dass ökologische Sachen produziert werden können, welche wir gerade mit ganz wenigen Mitteln entwickeln und die vielleicht irgendwie die Menschheit retten können.»

Tamim: «Es ist eine Frage der Prioritäten, des Überlebens. Leute wie wir, die noch ein paar Privilegien haben, haben die Chance, Projekte zu starten. Es geht nicht nur darum, das wiederzubekommen, was wir verloren haben, sondern vielmehr darum, etwas aufzubauen und vorbereitet zu sein. In dem Moment, in dem es wieder losgeht – es ist praktisch unvermeidlich, dass es nicht lange in diesem labilen Gleichgewicht bleiben wird –, müssen wir stark genug sein, um präsent zu sein, wenn es darauf ankommt. Es ist eine Frage des Aufbaus. Wir können nicht einfach abwarten, bis etwas passiert, das würde uns nur deprimieren. Wir müssen weiter aufbauen.»

Martina Widmer und Nicholas Bell EBF und Longo maï

  1. Dorf in der Bekaa-Ebene, das für die Produktion von Haschisch berühmt ist. Unser Freund versucht heute, die Verwendung von Hanf für eine Vielzahl anderer Produkte zu entwickeln, wie Hanfmilch, Papier sowie Bau- und Isoliermaterial.