LIBANON: Getreidefest in der Bekaa-Ebene

von Jürgen Holzapfel, Longo maï, 19.07.2023, Veröffentlicht in Archipel 327

Ende Mai waren wir zu viert aus unterschiedlichen Longo Mai-Kooperativen bei Freund·innen in der Bekaa-Ebene; ihr Projekt heisst «Buzuruna Juzuruna» – «Die Samen sind unsere Wurzeln»[1]. Vor sechs Jahren gegründet, arbeiten hier heute rund zwanzig Menschen – Frauen und Männer aus dem Libanon, Syrien und Frankreich.

Der Libanon ist mit rund zehntausend Quadratkilometern flächenmässig ungefähr ein Viertel so gross wie die Schweiz aber mit 667 Einwohner·innen pro Quadratkilometer dreimal so dicht bevölkert. Dieser schmale 220 km lange Streifen Land entlang der östlichen Mittelmeerküste zwischen Israel und Syrien stand von 1919 bis 1943 gemeinsam mit Syrien unter französischem Mandat bis es seine staatliche Unabhängigkeit in allgemeinen Wahlen beschloss. Die Verfassung schreibt vor, dass die drei zahlenmässig grössten der zahlreichen verschiedenen religiösen Strömungen, gleichberechtigt in der Regierung vertreten sein müssen. Das Land hat seit seiner Gründung nur wenige friedliche Perioden erlebt und viele Libanes·innen haben ihr Land verlassen, das zum Spielball der verschiedenen Interessen im Nahen Osten geworden ist. In den 50er Jahren flohen viele Palästinenser·innen in den Süden Libanons, bis die PLO 1970 ihre Kommandostruktur aus Palästina nach Beirut verlegte und vom Libanon aus zahlreiche Anschläge auf Israel verübte. 1970 kam es zum blutigen libanesischen Bürgerkrieg der erst 1989 ein Ende fand. Israel marschierte 1982 mit Bodentruppen im Libanon ein, mit dem Ziel, die PLO aus Libanon zu vertreiben. Die PLO-Führung verlegte daraufhin ihr Quartier nach Tunesien, aber rund 500.000 Palästinenser·innen leben bis heute noch im Land. Ein Grossteil der libanesischen Bevölkerung floh aus dem bis 2020 von der israelischen Armee besetzten Südlibanon. Zurück bleibt eine 6 Meter hohe Mauer, die den Süden Libanons von den besetzten palästinensischen Gebieten trennt. Auch Syrien hatte seit 1975 ständig Truppen in Libanon stationiert und wurde erst mit der Zedernrevolution[2] im Jahr 2005 gezwungen, diese aus Libanon ganz zurück zu ziehen. Kurz darauf führte die militärische Niederschlagung der Protestbewegung in Syrien zu einem anhaltenden Flüchtlingsstrom in die Nachbarländer. Bereits im März 2013 waren offiziell rund 700.000 syrische Flüchtlinge in Libanon; heute wird die Zahl auf 1,5 Millionen geschätzt. Diese schmerzhafte blutige Geschichte des kleinen Landes hat zum völligen Zerfall der staatlichen Strukturen geführt.

Die Abhängigkeit von Getreideimporten

Hinter der Mittelmeerküste steigt das Land zu dem zerklüfteten Libanongebirge auf 1500 bis 2500 Meter an, fällt danach wieder ab in die rund 1000 Meter hoch gelegene ursprünglich sumpfige und heute fruchtbare Bekaa-Ebene. Die wiederum wird im Osten von einem Gebirgszug begrenzt, der im südlichen Hermontgebirge auf über 3000 Meter ansteigt und in seiner ganzen Länge die Grenze zu Syrien und im Süden zu Israel und den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten bildet.

Die Bekaa-Ebene ist wie eine Oase; sie wird mit Wasser aus den Bergen versorgt, während sich östlich des Gebirges ein weites Steppen- und Wüstengebiet von Syrien bis in den Irak erstreckt. Es könnte Vieles produziert werden, das für die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung notwendig ist. Dennoch hat der Libanon bis vor dem russischen Angriff auf die Ukraine den Grossteil des Getreides aus einem der beiden Länder importiert. Danach stiegen die Getreidepreise explosionsartig an, weil Getreide aus den USA oder Kanada sehr viel teurer ist und weil die Getreidehändler die Situation schamlos ausgenützt haben. Der für die Importe wichtige Hafen von Beirut ist nach wie vor durch die extreme Wucht der Explosion einer Lagerhalle mit 2750 Tonnen Amoniumnitrat weitgehend zerstört, mehr als 200 Menschen kamen dabei ums Leben, mehr als 6000 wurden schwer verletzt. Das Land ist bankrott, das Geld nichts mehr wert (1 Dollar entspricht 100.000 libanesischen Pfund). Die Brotpreise wurden eine Zeit lang von der Weltbank subventioniert, um den Aufstand der Bevölkerung zu beruhigen. Was liegt da näher, als eine weitgehende Selbstversorgung mit eigenem Getreide wieder aufzubauen. Doch im Libanon etwas aufzubauen, ist nicht sehr einfach. Zu viele Menschen sind mit dem täglichen Überleben beschäftigt, Improvisation von einem Tag auf den anderen lässt nicht viel Raum für Perspektiven.

Ein Hoffnungsschimmer

Die Idee, hier ein Getreidefest zu feiern, enstand in einer Gruppe, die nicht aufgegeben hat, an eine friedliche Entwicklung zu glauben. Buzuruna Juzuruna (BJ) ist das erste Projekt im Libanon, in dem bäuerliche Gemüse- Getreide- und Blumensamen gewonnen werden – eine inzwischen recht grosse Samenbank ist die Grundlage. Die Gruppe gibt Kurse in Agrarökologie, sie verschenkt Samen und Setzlinge an Geflüchtete und sie lebt eine grenzenlose politische Utopie der Verständigung. «Nehua istiglaliya elfellahin» heisst eine Sammlung von Texten, die sie auf Arabisch publiziert hat – der Weg zu einer bäuerlichen Autonomie.

BJ hat damit begonnen, an das Klima angepasste Getreidesorten zu suchen, und einen Vermehrungsgarten mit vielen alten Getreidesorten angelegt. Es sind Sorten, die nicht auf möglichst hohe Erträge gezüchtet und zu einer Zeit angebaut wurden, in der chemische Dünger und Spritzmittel noch nicht als die wichtigsten Faktoren im Getreideanbau galten. Allerdings werden die Sorten heute nicht mehr im Handel verkauft, sondern wurden zum Teil in Frankreich von dem Netzwerk der «Bäckerbäuerinnen und -bauern» erhalten oder sie kommen aus den Beständen europäischer Genbanken. So haben z.B. alte Getreidesorten aus der deutschen Genbank, welche die Genossenschaft Longo maï auf dem Hof Ulenkrug in Mecklenburg-Vorpommern seit Jahren erhält, im Nahen Osten ihren Ursprung und wurden in Buzuruna Juzuruna dankbar wiederentdeckt.

Um Brot backen zu können, braucht es allerdings mehr als nur einen Erhaltungsgarten. Das meiste Land in der Bekaa-Ebene gehört jedoch Grossgrundbesitzer·innen, die nicht bereit sind, Land zu verkaufen. Auch hier dient das Agrarland mehr der sicheren Geldanlage als der Selbstversorgung der Bevölkerung. Inzwischen hat BJ kurzfristige Pachtverträge für einige Hektar Land erhalten, um grössere Mengen Saatgut zu gewinnen und bei ersten Backversuchen die Unterschiede der verschiedenen Sorten zu testen. Erst im letzten Jahr hat einer der Grundbesitzer Interesse an dem Projekt gefunden und 12 Hektar fruchtbares Land der Gruppe zunächst für ein Jahr verpachtet. Rund 30 Getreidesorten, vor allem Weizen, einige Hafersorten, Gerste und Roggen wurden hier abwechselnd mit Linsen, Kichererbsen und Saubohnen eingesät – eine Vielfalt, die nur selten zu sehen ist und alle Besucher·innen begeistert.

Die Freude über den Anbauerfolg war gross und so kam es gleich zu der nächsten Herausforderung: Es braucht mehr Landwirt·innen, die alte Sorten anbauen, Müller·innen, die den Weizen mahlen und es braucht Bäcker·innen, die das Mehl verbacken. BJ hat deshalb alle Freundinnen und Freunde eingeladen, darunter auch einige kleine Bäcker·innen, Bäuerinnen und Bauern aus der Umgebung, um zu besprechen, wer sich an einer regionalen Verarbeitung alter Getreidesorten beteiligen kann und will.

Weil der Libanon eben ein kleines Land ist, hat sich die Initiative schnell herumgesprochen und es kamen rund 60 Leute aus Beirut, aus dem Süden und dem Norden.

Brot backen

Zuerst tauschten sich die verschiedenen Bäcker·innen untereinander aus und es gab die unterschiedlichen Brote zu kosten: das im Nahen Osten überall übliche «Tannour», ein Fladenbrot, das in dem gleichnamigen Lehmofen gebacken wird und das ebenso verbreitete Saj-Brot, ein Fladenbrot , das ohne Hefe auf einer abgeflachten Halbkugel gebacken wird. Diese beiden sind das übliche Brot, das zu jeder Mahlzeit gegessen wird. Daneben gab es von verschiedenen Bäcker·innen Hefe- und Sauerteigbrote, wie sie in Europa meistens gegessen werden. Brote, die in Formen gebacken oder «frei geschoben» und in Scheiben gegessen werden. Für Tannour oder Saj-Brot braucht es keinen aufwendigen Ofen, ein einfacher Lehmofen, mit Holz beheizt, reicht dafür aus. So haben sich fünf Frauen in der Bekaa-Ebene zusammengeschlossen, um täglich ungefähr 60 Brote zu backen und kostenlos zu verteilen. Auf Grund der hohen Energiepreise sind sie von Gas auf Holz umgestiegen. Sie verarbeiten lokales Getreide und lassen es in einer «Tiroler Steinmühle», die von der amerikanischen Vereinigung «Green Mill» in der Bekaa-Ebene installiert wurde, mahlen und sieben. Andere Bäckereien, die ebenfalls Interesse an den alten Weizensorten haben, backen nach europäischer Art, allerdings erreichen sie nur einen kleinen Kundenkreis in Beirut. Auch die Grossbäckerei «Teffehe Bakery» war mit «Anas» vertreten, die als Bäckergewerkschaft entstanden ist und vor der Krise ungefähr 10 Tonnen Mehl pro Tag verarbeitet hat. Allerdings sind die alten Getreidesorten nicht für die industrielle Teigzubereitung geeignet, aber Anas findet das Projekt der lokalen Selbstversorgung sehr wichtig, denn sie hat festgestellt, dass die mittellose Bevölkerung seit der Brotkrise weniger Brot kauft als vorher.

Am Nachmittag ziehen alle zu dem Feld, auf dem BJ die dreissig Getreidesorten angebaut hat. In einem grossen Zelt gehen die Diskussionen weiter. Hier geht es mehr um die Bedeutung der alten Sorten für die Landwirt·innen in Anbetracht der hohen Preise für das importierte Hybridsaatgut, Dünger und Spritzmittel. Tatsache ist, dass im Libanon noch viele landwirtschaftliche Flächen brach liegen. Da keinerlei staatliche Statistiken vorhanden sind, gibt es auch keine vertrauenswürdigen Zahlen. Es gibt auch keinerleit staatliche Bemühungen, den Selbstversorgungsgrad der Bevölkerung zu stärken. Ein Vertreter der industriellen Grossmühle «Bakalian» äusserte sich herablassend über die lokale Weizenproduktion, die angeblich schlecht gereinigt und gelagert wird und niemals die gleichbleibenden Werte von importiertem Weizen erreicht. Seine Schlussfolgerung ist: Wir ziehen den importierten Weizen vor. Natürlich kam es darauf hin zum Streit zwischen den Landwirtschaftstreibenden und ihm, wodurch die Herausforderung der Selbstversorgung mit Getreide besonders deutlich wurde. Die Firma «Bakalian» betreibt auch Grossmühlen in Togo und Ghana und ist offenbar keine Partnerin für die lokale Entwicklung.

Bei der Besichtigung der Felder sind Viele begeistert. Während alle Weizenfelder in der Umgebung künstlich beregnet werden, stehen hier die alten Getreidesorten ohne Beregnung und Kunstdünger hoch und fest. Mehrere Bäuerinnen und Bauern melden ihr Interesse an, im nächsten Jahr von diesen Sorten Saatgut zu bekommen. Offenbar mit dem Ergebnis zufrieden, hat der Eigentümer des Feldes versprochen, BJ auch in den kommenden Jahren die Flächen zu überlassen.

Mit der Unsicherheit leben

Wie wird es weitergehen mit den Geflüchteten aus Syrien? Schon jetzt dringen Militäreinheiten hier und da in Flüchtlingslager ein, entweder nur um die Menschen einzuschüchtern oder um einige von ihnen exemplarisch nach Syrien abzuschieben. Unverantwortliche Politiker·innen machen die Migrant·innen für die Wirtschaftskrise verantwortlich, Bashar al Assad will wieder freundschaftliche Beziehungen mit dem Libanon und verspricht, «das Flüchtlingsproblem zu lösen».

Das sind keine guten Zeichen, aber umso mehr sind konkrete Beispiele lokaler Entwicklung und gegenseitiger Hilfe eine Hoffnung, an der es sich lohnt, festzuhalten.

Jürgen Holzapfel, Longo maï

  1. siehe auch Archipel Nr. 319, «Auf der Asche des Systems».

  2. Zedernrevolution ist die Bezeichnung für die Serie von Demonstrationen der Zivilgesellschaft im Libanon, hauptsächlich in Beirut, die durch ein tödliches Attentat auf den ehemaligen libanesischen Premierminister Rafiq al-Hariri am 14. Februar 2005 ausgelöst wurde.