RUSSLAND: Dekolonisierung der Russischen Föderation

von anonym, 19.06.2022, Veröffentlicht in Archipel 315

Dieser Aufruf wurde Mitte März mit dekolonialen Aktivist·inn·en und Vertreter·inne·n indigener Völker (1) der Russischen Föderation verfasst, die an Texten arbeiten, in denen sie die Kolonialpolitik der RF kritisieren. Diese Arbeit ist aufgrund der Risiken, die sie für die Teilnehmer·innen birgt, anonym.

Am 24. Februar 2022 startete Putin mit der Unterstützung Lukaschenkos einen gross angelegten Angriff auf die Ukraine. Dieser Krieg hatte 2014 begonnen, als die Russische Föderation die Krim annektierte und die «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk gründete. Russland hat bereits ähnliche Beschlagnahmungen von Gebieten unabhängiger Staaten vorgenommen und separatistische Bewegungen in anderen Staaten geschaffen und unterstützt, um diese Gebiete de facto von sich abhängig zu machen, wie es in Transnistrien und Abchasien der Fall war.

Gleichzeitig wurden Selbstbestimmungsbewegungen auf ihrem eigenen Territorium brutal unterdrückt, wie im Fall der Tschetschenischen Republik. Die heutigen Aktionen werden von Putin als Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine dargestellt, um «die Russen zu retten». Wir erleben Massaker an Zivilist·inn·en, die Bombardierung ziviler Gebäude und die völlige Verzerrung der Realität durch Propaganda in den von der Regierung kontrollierten Medien. Die Russische Föderation besteht aus vielen verschiedenen Völkern, die während der Kolonialisierung in ihr aufgenommen wurden. Auf unserem Recht der Selbstbestimmung zu bestehen, kann für uns jedoch bedeuten, ein Strafverfahren zu riskieren. Die öffentliche Äusserung einer Antikriegsposition hatte vor kurzem die gleichen Konsequenzen. Daher ist unsere Erklärung anonym und international. Die Arbeitsgruppe hat Teilnehmer·innen aus der Ukraine, Weissrussland, Moldawien, Armenien, Kirgisistan, Kasachstan, Usbekistan und aus Regionen der heutigen Russischen Föderation, darunter Tatarstan, Baschkortostan, Burjatien, die Republik Sacha, Kalmücken, Udmurtien und Mari El. In unseren Forderungen stützen wir uns auf bestehende Aufrufe von Vertreter·inne·n indigener Völker1 Russlands, die sich von staatlichen Strukturen distanziert und ihre Ablehnung des Krieges erklärt haben (2).

Friedliche Zerstörung des Imperiums

Wir beschuldigen Putin, Konflikte zu unterstützen oder anzustacheln und Kriege zu führen, die Gebiete anderer Staaten zu annektieren und das Land repressiv zu regieren. Wir glauben jedoch nicht, dass allein der Sturz seiner Macht zu wirklichen Veränderungen in Russland führen wird. Das von Putin aufgebaute totalitäre patriarchalisch-oligarchische Regime wird nicht mit seinem Abgang zusammenbrechen. Das gesamte Staatssystem muss dekonstruiert und reorganisiert werden.

Wir glauben, dass alle Völker das gleiche Recht auf Selbstbestimmung (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Art. 1) und volle Unabhängigkeit haben. Wir fordern, dass die Menschen das Recht zurückerhalten, über ihr Land selbst zu bestimmen, ihre eigene Sprache zu sprechen und ihre eigene Geschichte und Kultur zu gestalten. Wir rufen die Völker der Welt dazu auf, die Völker Russlands in ihrem Streben nach Desidentifikation mit dem Zentrum zu unterstützen. Wir fordern die friedliche Zerstörung des Imperiums.

Wir fordern regionale Autonomie bei der Entscheidungsfindung und lokale Selbstverwaltung anstelle eines vertikalen und auf Unterdrückung ausgerichteten Machtapparats. Unter diesen Bedingungen sollte jeder Mensch das Recht haben, sich am politischen Leben der Region, in der er lebt, zu beteiligen. Die neuen Autonomien sollten entlang territorialer Linien gebildet werden und nicht Hierarchien reproduzieren oder schaffen, die auf «Rasse», Religion oder Herkunft basieren. Wir brauchen keine Politik des Ausschlusses und der Ausrottung. Wir brauchen Inklusion und eine radikale Akzeptanz der Vielfalt. Unter den Bedingungen der neuen Autonomien muss das moderne Migrationsrecht, das als ein weiteres Mittel der Unterdrückung eingesetzt wird, überarbeitet werden. Die Menschen sollten ihren Wohnort frei wechseln können. (...)

Wir brauchen Frieden und die Befriedigung der Grundbedürfnisse jedes Menschen. Wir brauchen eine bedingungslose Grundversorgung und keinen überdimensionierten Polizei- und Militärhaushalt, der für interne und externe Aggressionen eingesetzt wird.

Der Krieg in der Ukraine hat einmal mehr die Abhängigkeit der Weltwirtschaft und der Weltpolitik von nicht erneuerbaren natürlichen Ressourcen bestätigt, die unter der Kontrolle mehrerer mächtiger Staaten stehen. Der «Westen» unternimmt aufgrund seiner Abhängigkeit von russischem Gas nicht genügend Schritte, um den Krieg zu beenden. Diese Situation gefährdet nicht nur die Welt, sondern kann auch zu einem globalen Ökozid führen. Indigene Völker sind die ersten, die unter der Ausbeutung nicht erneuerbarer natürlicher Ressourcen und der Klimakrise leiden. Die Unternehmen kennen die Folgen ihrer Aktivitäten, ergreifen aber keine Massnahmen zur Veränderung, da sie vom Profit geleitet werden. Wir fordern einen Übergang zu erneuerbaren Energien und die Rückgabe des Verfügungsrechts über die Ressourcen auf ihrem Territorium an die Bevölkerung. Russland benutzt heute wie früher Vertreter·innen indigener Völker, um seine Kolonialkriege zu führen. Die Ressourcen, um diese Kriege zu führen, stammen ebenfalls von ihrem Land und ihrer Arbeit. Dem müssen wir ein Ende setzen. Wir fordern alle auf, es nicht bei den Rufen nach Putins Abgang und einem Ende des Krieges zu belassen, sondern eine radikale Entkolonialisierung der Russischen Föderation zu fordern und den einzelnen Subjekten das Recht einzuräumen, ihre eigene Zukunft zu gestalten. Aktivist·inn·en und Vertreter·inne·n indigener Völker der Russischen Föderation

  1. Nach der Definition der «International Working Group on Indigenous Affairs» (IWGIA) sind indigene Völker diejenigen Völker, die sich am Rande der Entstehung zeitgenössischer Staaten befinden und sich als indigene Völker identifizieren. Sie werden mit bestimmten Gebieten in Verbindung gebracht, in denen ihre Geschichte nachvollzogen werden kann. Sie teilen die folgenden Merkmale (eines oder mehrere): Sie sprechen eine andere Sprache als die der dominanten Gruppe(n); sie werden im politischen System und im Rechtssystem diskriminiert; ihre Kultur unterscheidet sich von der der übrigen Gesellschaft; sie unterscheiden sich oft von der allgemeinen Gesellschaft in ihren Praktiken der Ressourcennutzung, da sie Jäger und Sammler, Nomaden, Hirten oder Brandrodungsbauern sind; sie sehen sich selbst und werden von anderen als anders als der Rest der Bevölkerung wahrgenommen.

  2. Erklärung des Internationalen Komitees der indigenen Völker Russlands: https://polarconnection.org/international-committee-of-indigenous-peoples-of-russia/ und «Das ist nicht unser Krieg»: Aufruf der Burjatischen Demokratischen Bewegung; Burjaten gegen den Krieg.