SCHWEIZ / KROATIEN: Menschenrechtspreis auf der Balkanroute

von Constanze Warta, EBF, 20.07.2023, Veröffentlicht in Archipel 327

Der diesjährige Schweizer Menschenrechtspreis «Offene Alpen»[1] ging an zwei kleine aber sehr effiziente NGOs aus Zagreb: Das «Centre for Peace Studies» und «Are You Syrious?». Mit ihrem humanen, juristischen, materiellen und politischen Engagement gegenüber den in Kroatien oder an der bosnisch-kroatischen Grenze gelandeten Geflüchteten fallen sie gänzlich aus dem offiziellen Rahmen eines Landes, das die Aussengrenze Europas bewacht.

Wir haben immer wieder über die Arbeit dieser mutigen, zumeist sehr jungen Menschen berichtet, unterstützen sie regelmässig und organisieren seit mehreren Jahren internationale Delegationen zu ihnen.[2] Dieses Mal sind drei von ihnen, junge Frauen aus Zagreb, in die Schweiz gekommen, um den Preis von uns entgegenzunehmen und über die aktuelle Situation zu berichten. Andrea Jelovčić vom «Centre for Peace Studies» (CMS) ist zuvor in Saignelégier und in Delémont eingeladen, um am 14. Juni, dem Frauenstreiktag in der Schweiz, insbesondere zur Lage von geflüchteten Frauen auf der Balkanroute zu intervenieren. Am Tag darauf findet eine Pressekonferenz in Bern statt und mehrere Treffen mit Schweizer Parlamentarier·innen. Einige von ihnen reagieren erstaunt, schockiert und hilfsbereit auf die Berichte von Anamaria Macanović und Suzana Rendulić von «Are You Syrious?». Sogar ein Treffen der 3 Frauen mit Christine Schraner Burgener, der Chefin des Staatssekretariats für Migration (SEM), kommt zustande. Ihr Amt ist verantwortlich für die Beantwortung der Asylgesuche und für die Abschiebungen von der Schweiz nach Kroatien, die nach wie vor stattfinden. Die Zusammenkunft verläuft in einem diplomatischen Ton. Immerhin können die Frauen aus Kroatien erklären, warum sie die Ausschaffungen aus der Schweiz für unzumutbar halten. Schraner-Burgener reist im Juli für kurze Zeit nach Kroatien, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen.

Für die Preisverleihung treffen wir uns dann in einem weiträumigen, grosszügig angelegten Gebäude in Bern – eine renovierte sechsstöckige ehemalige Fabrik, in der jetzt an die 300 Menschen wohnen. Das Haus wird in genossenschaftlicher Selbstverwaltung geführt und beherbergt neben den Wohnungen und Wohngemeinschaften nicht nur einen Veranstaltungsraum, in dem die Preisübergabe stattfindet, sondern auch noch viele weitere grosse Räumlichkeiten für diverse Aktivitäten. Es ist wunderbar, dass es solche Möglichkeiten in der Schweiz gibt – ein grosses Privileg! Wie erleben das wohl Menschen, die ihr bisheriges Leben auf engstem Raum, zum Teil mit ihnen unbekannten Menschen verbringen mussten?

Keine Sicherheit

Wir werden herzlich von mehreren Bewohner·innen des Gebäudes empfangen. Rund 50 Freund·innen und Unterstützer·innen sind gekommen. Und für die musikalische Begleitung Juliette und Markus von Musique Simili.

Zu Beginn der Veranstaltung gedenken wir in einer Schweigeminute der über 600 Menschen, die am Tag davor im Mittelmeer einen grauenvollen Tod gestorben sind. Trauer, Entsetzen und Wut – dieses Abschottungssystem geht schon zu lange über Leichen. Sophie Guignard, politische Sekretärin von Sosf (Solidarité sans frontières) erzählt mir am Abend, dass ein Freund von ihr in besagter Nacht Alarmphone-Bereitschaftsdienst hatte und mit den um Hilfe suchenden Menschen auf dem Schiff gesprochen hat, kurz bevor das Fischerboot unterging. Die griechische Küstenwache wurde alarmiert, trug jedoch, laut Zeugenaussagen von Überlebenden, massgeblich zum Untergang des Schiffes bei.

Die Rednerinnen auf dem Podium kommen auch aus einem Grenzland zwischen der Festung Europa und dem Rest der Welt, nur 666 Kilometer Luftlinie von Bern entfernt. Auch dort ist es nicht weit her mit der Grosszügigkeit, wenn es um geflüchtete Menschen geht. Von 12.700 Asylanträgen in Kroatien im Jahr 2022 wurden nur 21 positiv beantwortet – und das dank der Anstrengungen von Initiativen wie AYS und dem CMS. Andrea Jelovčić vom CMS sowie Anamaria Macanović und Suzana Rendulić von AYS berichten, dass die Sicherheit der Geflüchteten in Kroatien nicht garantiert ist. Die zwei existierenden Empfangszentren sind überfüllt, ärztliche Versorgung und psychologische Hilfe werden nicht gewährleistet, die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, Polizeigewalt und brutale Abschiebungen an der Tagesordnung. In den Aufnahmezentren von Zagreb und Kutina, 80 km von der Hauptstadt entfernt, schläft ein Teil der Geflüchteten auf dem Boden. Frauen und Männer, die sich nicht kennen, sind oft zusammengepfercht in winzigen Zimmern, was grundsätzlich verboten ist. Auch was Lebensmittel und andere lebensnotwendige Bereiche wie Kleidung, Medikamente etc. betrifft, erzählen die drei Frauen von unmenschlichen Zuständen. Es mangelt an allem. Insbesondere schwangere Frauen, Minderjährige sowie kranke und schwache Personen sind hier in Gefahr.

Beweise erbringen

Warum also werden nach wie vor Geflüchtete aus der Schweiz – einem Land, dessen Reichtum uns entgegenschlägt, sobald wir es betreten – nach Kroatien ausgeschafft? Nach Ermessen der Schweizer Regierung ist Kroatien ein sicheres Land; daher «darf» sie – nach den Dublin-Verträgen – die Geflüchteten, die zuvor in Kroatien registriert wurden, dorthin zurückschicken. Was dann mit ihnen passiert, betrifft die Eidgenossenschaft von dem Moment an nicht mehr. Zwischen Januar und Juni hat das Staatssekretariat für Migration 67 Asylwerber·innen (Stand 16.6.) nach Kroatien zurückgeschickt, mehr als im ganzen Jahr davor. Diese Menschen sind in Kroatien nicht in Sicherheit. In letzter Zeit gab es in der Schweiz immer wieder starken Protest gegen solche Rückschaffungen. Doch auch mit der Kampagne #StopDublinCroatie, die seit mehreren Monaten läuft, konnte bisher nichts verändert werden. Guido Ehrler, ein in Migrationsangelegenheiten engagierter Rechtsanwalt, ergreift das Wort in der Diskussion nach dem offiziellen Teil der Preisverleihung: «Wir müssen der Regierung gegenüber beweisen können, dass die Situation für Geflüchtete in Kroatien zu gefährlich ist. Daher sind die Informationen dieser Frauen extrem wichtig. Nur so können wir auf juristischer Ebene erreichen, dass die Abschiebungen nach Kroatien gestoppt werden.»

Die Mitglieder von AYS und das CMS engagieren sich auch für Menschen, die versuchen, von Bosnien aus die kroatische EU- und Schengen-Aussengrenze zu überqueren. Die Flüchtenden werden sehr oft von der Grenzpolizei misshandelt und zurückgeschickt. Solche Abschiebungen («Pushbacks») sind illegal, weil jeder Schutzsuchende das Recht hat, Asyl zu beantragen und angehört zu werden. Inzwischen werden Geflüchtete auch im Landesinnern von Kroatien gejagt und nach Bosnien zurückgeschafft. Diese illegalen Vorgehensweisen sind hundertfach von den NGOs dokumentiert und in der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht worden.

Die im CPS und bei AYS arbeitenden Frauen sind immer wieder Drohungen des Staates ausgesetzt. Mit der Verleihung des Preises möchten wir ihre Arbeit in der Schweiz bekannt machen, ihnen den Rücken stärken und die Zusammenarbeit auf juristischer Ebene zwischen ihnen und schweizerischen Anwält·innen fördern. Vielleicht können auf diese Weise der Schweizer Regierung die Augen geöffnet werden!

Im Namen der Festung Europa

Doch nicht nur die Schweiz, auch andere Länder schieben ab. M., ein junger syrischer Kurde, der Suzana, Anamaria und Andrea nach Bern begleitet hat, war vor ein paar Jahren mit seiner Familie von der Türkei über Kroatien nach Deutschland gekommen. Wegen «Dublin» erhielt er dort kein Asyl und wurde an seinem 18. Geburtstag, einen Tag vor der Hauptschulabschlussprüfung, die ihn vor der Ausschaffung geschützt hätte, seiner Familie entrissen und nach Kroatien abgeschoben. Wenn ihm dort nicht die Frauen von AYS geholfen hätten, wäre er längst wieder in Syrien und möglicherweise nicht mehr am Leben. Er spricht inzwischen perfekt fünf Sprachen (Kurdisch, Türkisch, Deutsch, Englisch, Kroatisch) und lacht gerne, doch wenn er seine Geschichte erzählt, wird er ernst, und spät am Abend fragt er schmunzelnd Pfarrer Andreas Nufer[3], der bei der Preisverleihung die Laudatio gehalten hat: «Könntet Ihr nicht all diese Politiker und bösen Menschen in die Hölle schicken?»

Michael Rössler vom Europäischen BürgerInnen Forum erinnert jedoch daran, dass mit der überraschenden Wahl im letzten Dezember von Elisabeth Baume-Schneider[4] in die Landesregierung Hoffnung für eine menschlichere Herangehensweise in der Asylpolitik aufgekommen war: «Die neue Bundesrätin versucht, ihren Spielraum ein wenig zu nutzen, um gewisse Erleichterungen für bestimmte Gruppen zu erreichen. Doch das geht nicht weit genug. Sie müsste die Dublin-Ausschaffungen nach Kroatien stoppen, weil dort die Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Wie kann die Bundesrätin, die ja eher von einer links-progressiven Seite herkommt, es mit ihrem Gewissen vereinbaren, schutzsuchende Menschen an solche Länder auszuliefern?»[5].

Inzwischen haben wir erfahren, dass Dr.iur. Martin Küng, Gerichtsschreiber am Schweizer Bundesverwaltungsgericht, sein Amt niedergelegt hat mit der Begründung, dass das «Referenzurteil» zu Kroatien (BVGer E-1488/2020), nach dem keine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorliege und schutzbedürftige Personen deshalb nach Kroatien zurückgeschickt werden dürften, politisch und nicht rechtlich motiviert sei. «Ich werde nie mit meinem Namen für Handlungen einstehen, welche kausal zur Verletzung der EMRK führen», hat Dr. Küng in seinem Tweet verlauten lassen. Ein mutiger Mensch, der auf sein Gewissen hört und die derzeitige Rechtsprechung zu den Ausschaffungen nach Kroatien demaskiert hat. Vielleicht ändert sich ja doch noch etwas!

Constanze Warta, EBF

PS: Eine Schweizer Delegation von mehreren NGOs weilte Anfang Juni in Kroatien und hat den folgenden umfassenden Bericht verfasst: «Eine Spirale der Gewalt – Dublin-Rückführungen nach Kroatien und die Rolle der Schweiz» von Solidarité sans frontières und Droit de Rester, 28.6.2023. Zu finden unter: www.sosf.ch, news. Bitte lesen und bekannt machen!

  1. Der mit 12.000 Franken dotierte Menschenrechtspreis «Offene Alpen» wird vom Europäischen Bürgerinnen Forum und vom schweizerischen Verein «Freundeskreis Cornelius Koch» an Personen und Gruppen verliehen, die sich aktiv für die Rechte von Geflüchteten, anderen benachteiligten Menschen und von bedrohten Minderheiten in Europa einsetzen.

  2. Sie finden alle Artikel unter : www.forumcivique.org/kampagnen/balkanroute/

  3. Andreas Nufer ist Pfarrer der reformierten Heiliggeistkirche in Bern. Er ist seit Jahrzehnten aktiv mit und für Geflüchtete. Er ist Teil des Projektes «offene kirche bern».

  4. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ist Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) und daher auch oberste Verantwortliche der Asylpolitik in der Schweiz.

  5. «kath.ch» online, 17.6.2023: Interview mit Michael Rössler: www.kath.ch/newsd/schweizer-menschenrechtspreis-offene-alpen-geht-an-kroatische-organisationen/

Are You Syrious?

AYS ist eine gemeinnützige Organisation, in der mehr als 160 Freiwillige in Kroatien und in anderen Ländern aktiv sind. AYS setzt sich auf vielfältige Weise für die Rechte von Menschen auf der Flucht ein. Zudem werden Sprachkurse und individuelle Unterstützung für Kinder in den Schulen angeboten. Das Integrationszentrum der Initiative betreibt einen Umsonstladen für Geflüchtete und andere Menschen in Not. Als Mitglied des «Border-Violence-Monitoring-Netzwerkes» (BVMN) dokumentiert AYS Menschenrechtsverletzungen innerhalb Kroatiens und an den Grenzen des Landes. Immer wieder wird ihre juristische Arbeit schwer kriminalisiert; sie sind konfrontiert mit Todesdrohungen, Gerichtsverfahren, Haftandrohungen, enormen Geldstrafen und sogar mit dem Versuch des kroatischen Innenministeriums, ihre Arbeit zu verbieten.

Centre for Peace Studies

Das Zentrum für Friedensforschung CMS (kroatische Abkürzung) ist ebenfalls eine gemeinnützige Organisation und ist aus der Friedensarbeit nach dem Jugoslawienkrieg entstanden. Es arbeitet mit drei sich ergänzenden Programmen: Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und ethnischem Exklusivismus. Das CMS fördert Gewaltlosigkeit und sozialen Wandel durch Bildung, Forschung und Aktivismus, setzt sich für das Recht auf Asyl und Migration ein und arbeitet eng mit «Are You Syrious?» zusammen. Gemeinsam haben die beiden Organisationen beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof die Verurteilung Kroatiens wegen Missachtung der Rechte von Geflüchteten erreicht und werden international als Expertinnen in Asyl- und Migrationsfragen geschätzt.