SCHWEIZ: #StopDublinKroatien

von Solidarités sans frontières, Droit de rester, 15.04.2023, Veröffentlicht in Archipel 324

Seit mehreren Monaten versucht eine breite Bewegung von exilierten und solidarischen Menschen Abschiebungen aus der Schweiz nach Kroatien zu verhindern, wo Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Doch die Schweizer Behörden zeigen sich bisher stur.

Bleiberecht-Kollektive sind Gruppen von Aktivist·inn·en, die exilierte Menschen auf ihrem Weg zur Asylberechtigung oder zur Regularisierung sozial, parajuristisch und politisch begleiten. Im Sommer 2022 stellten wir in der Schweiz einen massiven Anstieg von Dublin-Rückführungsentscheidungen nach Kroatien fest. Das Dublin-Abkommen sieht vor, dass die Zuständigkeit für die Bearbeitung eines Asylantrags bei dem EU-Land liegt, das der Migrant oder die Migrantin auf seiner/ihrer Reise als erstes durchquert.

Die extreme Polizeigewalt gegen Exilierte in Kroatien mit den sogenannten Pushbacks (illegale Rückschiebungen) an der kroatisch-bosnischen bzw. kroatisch-serbischen Grenze sind mittlerweile weitgehend bekannt und dokumentiert. Auf der Grundlage von Berichten von Menschen, die diese Gewalt erlebt haben, wurde in der Schweiz die Kampagne #StopDublinKroatien ins Leben gerufen. Hinter diesem Namen steht ein Netzwerk aus mehreren hundert von Abschiebung bedrohten Menschen und solchen, die sich mit ihnen solidarisieren. Wir treffen uns fast wöchentlich, online und physisch, um gemeinsam die Ausrichtung der Kampagne zu diskutieren und zu beschliessen. An Arbeit und Aktionen mangelt es nicht: Offene Briefe, Petitionen, Demonstrationen, Mail-Aktionen, um direkt bei den Behörden gegen die Ausschaffungen zu protestieren; Medienarbeit, Information auf den sozialen Netzwerken etc. Mehrere Gruppen schlossen sich ohne Zögern der Kampagne an und unterstützten sie von Anfang an: das Migrant Solidarity Network, die Exilaktion, das Solinetz, das Europäische BürgerInnen Forum und noch andere. Grosse Organisationen, die zu Beginn der Kampagne noch geschwiegen hatten, erhoben schliesslich auch ihre Stimme: Die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH und Amnesty International haben die Abschiebungen nach Kroatien unter dem Hashtag #StopDublinCroatia öffentlich kritisiert. Auch die Sozialistische Partei (SP) und die Grünen zeigten ihre Unterstützung, indem sie parlamentarische Vorlagen in den kantonalen Legislativen einreichten oder offene Briefe an die für Asylfragen zuständigen Staatsräte schrieben.

Die Stärke der Solidarität und die Bedeutung des Zusammenstehens und der gegenseitigen Fürsorge, die diese kollektive Kampagne seit mehreren Monaten demonstriert, wird leider nur von der Missachtung der Schweizer Asylbehörden übertroffen. In diesem Zusammenhang müssen wir uns näher mit dem Antwortschreiben der neuen Staatssekretärin für Migration auf die zahlreichen Forderungen der Bewegung beschäftigen.

Zurück zum Täter

Christine Schraner Burgener stellt in ihrem Brief zwar fest, dass dem Staatssekretariat für Migration (SEM) die Praxis der illegalen Pushbacks in Kroatien bekannt sei. Doch diese Tatsache führt nicht etwa zur Erkenntnis, dass deshalb Rückführungen in dieses Land zu hinterfragen wären. Sie argumentiert vielmehr sehr allgemein, es sei von zentraler Bedeutung, dass «Polizei- und Grenzschutzbehörden im Einklang mit geltendem nationalen und internationalen Recht» arbeiten. Das einzige Problem dabei ist, dass dies nachweislich nicht der Fall ist. Hunderte Berichte beweisen, dass die kroatischen Grenzschutz- und Polizeieinheiten mit äusserster Brutalität vorgehen. Und nicht nur das: Sie sperren Menschen auch illegal ein und rauben sie aus. Es ist erwiesen, dass diese Praxis institutionell und politisch abgesegnet ist. Sie wird vom kroatischen Staat also nicht nur geduldet, sondern von ihm ausgeführt. Vor diesem Hintergrund fordern Berichte von Solidarité sans frontières (Sosf), aber auch von der sonst eher zurückhaltenden Schweizerischen Flüchtlingshilfe, dass Rückführungen nach Kroatien sofort gestoppt werden müssen.

Frau Schraner Burgener behauptet weiter, dass die Pushbacks und Dublin-Rückführungen keinen Zusammenhang hätten. Das ist eine zynische und irreführende Aussage. Das SEM unter der Leitung der Ex-Diplomatin übergibt die Menschen in die Obhut desselben Staates, der für ihre Misshandlung verantwortlich ist. Die Schweiz schickt die Opfer von Gewalt und Folter zurück zum Täter. Die Asylex-Anwältin Lea Hungerbühler sieht in dieser Praxis, laut einem Artikel in der Wochenzeitung WOZ, einen klaren Verstoss gegen das Non-Refoulement-Prinzip – sprich gegen den Grundsatz, dass niemand in ein Land zurückgewiesen werden darf, wo ihm/ihr Folter oder schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Weil ausserdem aussichtslos ist, dass der kroatische Staat die Opfer angemessen entschädigt, verstösst die Schweizer Praxis zudem gegen die Anti-Folterkonvention der UNO. Obwohl sie es besser wissen müsste, behauptet Frau Schraner Burgener, dass Asylsuchende nach ihrer Überstellung nach Zagreb Zugang zu einem «rechtsstaatlichen Asyl- und Wegweisungsverfahren» haben und betont auch die Verantwortung der kroatischen Behörden bei der medizinischen Versorgung. Nach einem Besuch vor Ort hielt Sosf in Bezug auf letzteres fest: «Das Gesundheitssystem und seine Einschränkungen für Exilierte reduzieren deren Chancen auf eine medizinische und psychosoziale Versorgung, die auf die Verletzlichkeit der Geflüchteten zugeschnitten ist, auf nahezu null.»

Vorsätzliches Wegschauen

Weiter verteidigt sich die SEM-Direktorin: «Weder das SEM noch das Bundesverwaltungsgericht [BVGer, die Red.] gehen von systemischen Schwachstellen im kroatischen Asylsystem aus.» Diese Aussage stützt Frau Schraner Burgener auf Informationen von «staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen». Doch wir fragen uns: auf welche genau? Wir wissen: eine dieser Quellen ist das «Center for Peace Studies» (CPS). Sosf führte im Herbst 2022 mit CPS und mit anderen NGOs vor Ort intensive Gespräche.1 Diese erzählen eine ganz andere Version als diejenige, die das SEM verbreitet. Sie sprechen von systematischer Gewalt und explizit von «systemischen Mängeln» – eben jenen, die das SEM und das BVGer nicht sehen wollen. Sara Kekus von der CPS weist die von Christine Schraner Burgener verbreitete Darstellung gegenüber der WOZ energisch zurück und widerspricht ihr «fundamental». Die Bewertungen des BVGer, welche die Praxis der Abschiebungen als unproblematisch taxieren, werden auch in einem kürzlich erschienenen Bericht der SFH als unverständlich bezeichnet. Der Verweis der Direktorin auf die Urteile des BVGer sollen ihre brüchige Argumentation stützen. Aber Sosf argumentiert ausführlich gegen diese Gerichtsentscheide: «Wenn ein Staat gewillt ist, Menschen an seinen Aussengrenzen abzuschieben bzw. solche Vorgehensweisen duldet und den Betroffenen die gemäss Flüchtlingskonvention zustehenden Rechte verwehrt, so muss davon ausgegangen werden, dass systemische Mängel im Asylsystem dieses Staates vorliegen, die sich auch auf die Behandlung, Betreuung, Unterbringung der Asylsuchenden auswirkt. Nicht umsonst werden genau solche Missstände regelmässig rapportiert. Das BVGer widerspricht mit dieser Einschätzung seiner eigenen Rechtsprechung.»

Das SEM und das BVGer machen es sich mit ihren Ausreden zu einfach und es ist äusserst bedauerlich, dass sie ihrer Argumentation unvermindert weiter folgen – trotz allen Berichten und Interventionen, die beweisen, dass Abschiebungen nach Kroatien nicht verantwortbar sind.

Deshalb kommen wir zum Schluss: Wer wegschaut ist mitschuldig – das SEM und das BVGer verletzen nicht nur internationale Rechtsgrundsätze, sondern werden durch ihre Praxis auch zu Mittätern bei den zahlreichen Verbrechen gegenüber Migrant·inn·en in Kroatien. Daran ändern auch «diplomatische» Briefe von Christine Schraner Burgener nichts. Entgegen ihrem Schlusssatz in ihrem Schreiben hat die SEM-Direktorin damit nicht zu einem «besseren Verständnis» beigetragen, sondern vielmehr bewiesen, dass es ihr in einer wichtigen Kernkompetenz an Verständnis mangelt: den Grund- und Menschenrechten.

Gegen die vorsätzliche Ignoranz des SEM und seine wahnwitzigen Ausschaffungen (wir haben zwischen Januar und März 2023 mehr als zwanzig gezählt) bleiben wir vereint und entschlossen. Diese Abschiebungen nach Kroatien müssen unbedingt gestoppt werden. Und wir werden so lange weitermachen, bis dies geschieht.

Solidarité sans frontières, Droit de rester

  1. Im November 2022 organisierte das Europäische BürgerInnen Forum eine Delegationsreise nach Bosnien und Kroatien mit Vertreterinnen von verschiedenen Schweizer NGOs, darunter «Solidarité sans frontières».