UKRAINE: Aufruf der Zapatistas

von Kommission Sexta der EZLN, 14.04.2022, Veröffentlicht in Archipel 313

Compañer@s, Brüder und Schwestern, Wir teilen Euch unsere Worte und Gedanken zu dem mit, was derzeit in der Geografie, die wir Europa nennen, geschieht:

Erstens

Es gibt eine Macht, die angreift: die russische Armee. Auf dem Spiel stehen die Interessen des Grosskapitals auf beiden Seiten. Die Leidtragenden der Wahnvorstellungen der einen und des hinterhältigen wirtschaftlichen Kalküls der anderen sind die Menschen in Russland und der Ukraine (und vielleicht bald auch in anderen nahen oder fernen Ländern). Als Zapatistas, die wir sind, unterstützen wir weder den einen noch den anderen Staat, sondern diejenigen, die für das Leben und gegen das System kämpfen.

Während der multinationalen Invasion des Irak (vor fast 19 Jahren), angeführt von der nordamerikanischen Armee, gab es auf der ganzen Welt Mobilisierungen gegen diesen Krieg. Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand dachte, dass ein Widerstand gegen die Invasion bedeutete, sich auf die Seite von Saddam Hussein zu stellen. Heute ist die Situation ähnlich, aber nicht identisch. Weder Selensky noch Putin! Stopp dem Krieg!

Zweitens

Verschiedene Regierungen haben sich auf die eine oder andere Seite gestellt und tun dies aus wirtschaftlichen Motiven. Bei ihnen gibt es keinerlei humanistische Bedenken. Für diese Regierungen und ihre "Ideologen" gibt es gute und schlechte Interventionen, Invasionen und Zerstörungen. Die guten sind die, die ihre Verbündeten durchführen, und die schlechten die, die von ihren Gegnern verübt werden. Der Applaus für Putins kriminelles Argument zur Rechtfertigung der militärischen Invasion der Ukraine wird sich in Wehklagen verwandeln, wenn mit denselben Worten die Invasion anderer Völker gerechtfertigt wird, deren Wege dem Grosskapital nicht genehm sind.

Sie werden in andere Geografien einfallen, um sie vor der «Neonazi-Tyrannei» zu retten oder um den benachbarten «Narco-Staaten» ein Ende zu setzen. Sie werden dann die gleichen oder ähnliche Worte wie Putin verwenden: «Wir werden entnazifizieren» und sie werden die «Argumentation» von der «Gefahr für ihre Völker» weitertreiben. Und dann eine Situation, wie unsere Compañeras in Russland uns beschreiben: «Russische Bomben, Raketen und Kugeln fliegen auf die Ukrainer·innen, ohne sie nach ihrer politischen Meinung oder der Sprache, die sie sprechen, zu fragen»; es ist die «Nationalität», die zählt.

Drittens

Das Grosskapital und seine Regierungen im «Westen» lehnten sich zurück und betrachteten – oder ermutigten sogar – die Art und Weise, wie sich die Situation verschlechterte. Dann, nachdem die Invasion begonnen hatte, warteten sie ab, ob die Ukraine Widerstand leistet, und rechneten dann aus, was sie von dem einen oder anderen Ergebnis gewinnen könnten. Da die Ukraine Widerstand leistete, begannen sie tatsächlich damit, «Hilfs»-Pakete vorzustrecken, die später zurückgezahlt werden sollen. Nicht nur Putin ist vom ukrainischen Widerstand überrascht. Diejenigen, die in diesem Krieg gewinnen, sind die grossen Rüstungskonsortien und das Grosskapital. Für sie ist es die Gelegenheit, Gebiete zu erobern, zu zerstören/wiederaufzubauen, d. h. neue Märkte für Waren und konsumierende Menschen zu schaffen.

Viertens

Anstatt uns dem zuzuwenden, was die Medien und sozialen Netzwerke der jeweiligen Lager verbreiten – und was beide als «Nachrichten» präsentieren –, oder den «Analysen» der plötzlich unzähligen geopolitischen Expert·inn·en und Verehrer·inne·n des Warschauer Pakts und der NATO, haben wir beschlossen, diejenigen zu suchen und zu fragen, die wie wir im Kampf um das Leben in der Ukraine und in Russland engagiert sind. Nach mehreren Versuchen gelang es der Kommission Sexta Zapatista, mit unseren Verwandten im Widerstand und in der Rebellion in den Geografien, die Russland und die Ukraine genannt werden, in Kontakt zu treten.

Fünftens

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Verwandten, die zudem die Fahne mit dem libertären "A" schwenken, standhaft bleiben: diejenigen, die sich im Donbass in der Ukraine im Widerstand befinden und diejenigen, die in den Strassen Russlands unterwegs sind und rebellieren. In Russland werden Menschen verhaftet und verprügelt, weil sie gegen den Krieg protestieren. Und in der Ukraine werden Menschen von der russischen Armee ermordet.

Was sie untereinander und sie mit uns verbindet, ist nicht nur das NEIN zum Krieg, sondern auch die Weigerung, den Regierungen zu folgen, die ihre Völker unterdrücken. Inmitten der Verwirrung und des Chaos auf beiden Seiten stehen sie fest zu ihren Überzeugungen: ihrem Kampf für Freiheit, ihrer Ablehnung von Grenzen und Nationalstaaten und der jeweiligen Unterdrückung, die nur die Fahne wechselt. Es ist unsere Pflicht, sie im Rahmen unserer Möglichkeiten zu unterstützen. Ein Wort, ein Bild, eine Melodie, ein Tanz, eine erhobene Faust, eine Umarmung – selbst aus entfernten Geografien – sind ebenfalls eine Unterstützung, die ihre Herzen ermutigen wird. Widerstand ist Beharren und Fortbestehen. Unterstützen wir unsere Lieben in ihrem Widerstand, d.h. in ihrem Kampf um das Leben. Wir sind es ihnen schuldig und wir sind es uns selbst schuldig.

Sechstens

Daher rufen wir die nationale und internationale Sexta, die dies noch nicht getan hat, dazu auf, gemäss ihren Zeitplänen, Geografien und auf ihre Weise gegen den Krieg und zur Unterstützung der Ukrainer·inne·n und Russ·inn·en, die in ihren Geografien für eine Welt der Freiheit kämpfen, zu demonstrieren. Ebenso rufen wir dazu auf, den Widerstand in der Ukraine finanziell zu unterstützen, und zwar auf Konten, die uns noch bekannt gegeben werden. Die Sexta-Kommission der EZLN tut ihrerseits das Beste, indem sie denjenigen in Russland und der Ukraine, die gegen den Krieg kämpfen, Hilfe zukommen lässt. (...) Ohne zu zögern, schreien wir, rufen dazu auf, und fordern mit lauter Stimme: «Russische Armee raus aus der Ukraine».

Der Krieg muss jetzt beendet werden. Wenn er weitergeht und, wie zu erwarten ist, eskaliert, dann wird es vielleicht niemanden mehr geben, der die Landschaft nach der Schlacht beschreiben kann.

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens.

Subcommandante Insurgente Moises. SupGaleano. Kommission Sexta der EZLN. März 2022 Quelle: Enlace zapatista

  • Wir publizieren diese interessante Stellungnahme und Vision aus Lateinamerika, was nicht heisst, dass das EBF einhellig mit jedem Satz darin übereinstimmt. Die Redaktion.