Man traut seinen Ohren und Augen nicht: Der deutsche Staat soll über Jahre hinweg aktive Neonazis gedeckt und bezahlt haben? Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, also des deutschen Inlandsgeheimdienstes, hätten von den Morden der rechten Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) nicht nur gewusst, sondern aktiv dazu beigetragen?
Doch genau diese offenen Fragen stellten die Initiator_innen und des Tribunals «NSU-Komplex auflösen», das Mitte Mai im Schauspielhaus Köln stattfand. Mit dem Tribunal, das eine rechtlich nicht bindende öffentliche Anklage formuliert, forderten sie Aufklärung und Gerechtigkeit. Ausserdem kamen die Angehörigen der Opfer zu Wort und legten ihre Sicht der Dinge dar. All das, so würde man nun entgegnen, sei doch Aufgabe des Staates und der demokratischen Rechtsprechung. Doch in diesem Fall scheinen die deutschen Behörden grob zu versagen – und das mit System, so die Initiatoren des Tribunals.
Über 800 Menschen nahmen am Tribunal teil, darunter Angehörige der Mordopfer, Bürgerrechtsgruppen und NGOs. Sie fordern die Aufklärung der Hintergründe für die zehn Morde, die die Terrorgruppe «Nationalsozialistischer Untergrund» in den Jahren 2000 bis 2007 mutmasslich begangen hat. Die Mehrzahl der Ermordeten entstammt migrierten Familien. Seit über vier Jahren läuft in München ein Gerichtsprozess gegen fünf Neonazis, die die Taten begangen haben sollen bzw. involviert waren. Doch dieser Prozess würde laut den Initiatoren des Tribunals ausser acht lassen, dass sich der NSU auf ein breites Netzwerk stützen konnte.
Esther Dischereit1 meinte im Vorfeld des Tribunals: «Die Sicherheitsbehörden haben längst schon einen ‚muro di gomma‘, also eine unsichtbare Wand errichtet und zeigen sich undurchdringlich. Es muss angenommen werden, dass sie in erheblicher Weise mit den Mordtaten in der einen oder anderen Weise verbunden waren. Wenn diese Anklage vor Gericht nicht geführt werden kann, dann muss die Zivilgesellschaft sie führen.»
Den Betroffenen Gehör schenken
Lange Zeit verdächtigten die Behörden die Angehörigen der Opfer, in kriminelle Milieus verstrickt zu sein. Die Presse sprach sogar von «Dönermorden» und unterstellte damit, dass es sich um Gewalttaten innerhalb der türkischen Community gehandelt habe. Doch als das Neonazi-Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im November 2011 nach einem versuchten Banküberfall in Eisenach enttarnt wurde, war schnell klar, dass die Behörden über Jahre hinweg wissentlich oder unwissentlich falsch ermittelt hatten: Die zehn Personen fielen keineswegs einem vermeintlichen Bandenkrieg unter Migranten zum Opfer. Sie wurden von den rechtsextremen Terroristen des NSU ermordet.
Im Juni 2004 verübte der NSU vor einem türkischen Frisörladen in der Kölner Keupstrasse ein Nagelbombenattentat. Mehrere Menschen wurden schwer verletzt. Diese Strasse, die nur wenige Minuten vom Schauspielhaus Köln entfernt liegt, ist symbolträchtig für das deutsch-türkische Leben der Stadt. Eine nennenswerte Entschädigung gab es nach dem Attentat nicht.
Noch schlimmer war, dass die deutschen Kunden und Kundinnen jahrelang ausblieben. Viele Geschäfte mussten schliessen, der soziale und ökonomische Zusammenhalt der Keupstrasse war gefährdet.
Der Musiker und Lehrer Kutlu Yurtseven2 wuchs in diesem Stadtteil auf und ist eng mit ihm verbunden. Nach dem Anschlag seien die Anwohner_innen der Keupstrasse jahrelang drangsaliert und in Verhören gedemütigt worden, sagt er. Dieser Umstand hätte das Vertrauen der Menschen in den Staat unterminiert. Yurtseven betont, dass seine Eltern Deutschland stets als intakten Rechtsstaat gesehen hätten. Viele Deutsch-Türk_innen der älteren Generation waren in den frühen 1980er Jahren, nach dem Putsch in der Türkei, nach Deutschland gekommen. Sie waren während langer Zeit felsenfest davon überzeugt gewesen, dass man sich in diesem Land auf das Justizsystem verlassen könne. Für sie, so Yurtseven, sei mit dem Attentat in der Keupstrasse und den darauf folgenden falschen Ermittlungen eine Welt zusammengebrochen.
Lange Vorgeschichte
Die Geschichte des NSU reicht bis in die 1990er Jahre zurück. Als nach dem Fall der Berliner Mauer die rechtsextreme Gewalt sprunghaft anstieg, bildeten sich in den ostdeutschen Bundesländern äusserst starke Neonazi-Strukturen heraus. Diese wurden von westdeutschen Neonazis mitunter gezielt aufgebaut und unterstützt. Das Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe ging aus der Neonazi-Szene der ostdeutschen Stadt Jena hervor. Mitte der 1990er Jahre schlossen sie sich dem «Thüringer Heimatschutz» an, einer Neonazi-Organisation, die wesentlich von Tino Brand mitaufgebaut wurde. Der notorische Rechtsradikale, der aktuell wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen eine über fünfjährige Haftstrafe absitzt, stand jahrelang im Sold des Verfassungsschutzes und soll insgesamt 200‘000 D-Mark, also umgerechnet ca. 100‘000 Euro erhalten haben. Auf diese Weise flossen Gelder des deutschen Staates in den Aufbau von späteren Terrorstrukturen.
Gegen Ende der Neunziger Jahre radikalisierten sich Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe und gingen schliesslich in die Illegalität. Bis zum Jahr 2003 gab es gegen das Trio einen Haftbefehl, dann wurde dieser seltsamerweise eingestellt. Neben den Terroranschlägen und Morden organisierte das Trio in den Jahren von 1998 bis 2011 mutmasslich fünfzehn Raubüberfälle, vornehmlich auf Banken. Die drei Neonazis dürften jedoch nicht isoliert gehandelt haben: Expert_innen gehen davon aus, dass 100 bis 200 Personen im Umfeld des NSU aktiv waren, darunter V-Personen, also Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, sowie Funktionäre rechtsextremer Parteien.
Am 4. Mai jährte sich zum vierten Mal der Beginn des in München stattfindenden NSU-Gerichtsverfahrens. Doch Initiator_innen des NSU-Tribunals gehen davon aus, dass wir heute von der «lückenlosen Aufklärung», die Kanzlerin Angela Merkel zu Beginn des Münchner Prozesses versprochen hatte, meilenweit entfernt sind.
Tribunal für die lückenlose Aufklärung
Hier setzt das Tribunal an: Entgegen der Engführung des Münchner Prozesses auf lediglich drei Neonazis versteht sich das Tribunal «als Ort der gesellschaftlichen Anklage von Rassismus». Das Tribunal soll helfen, die Hintergründe zutage zu befördern, die dazu führten, dass in den Ämtern der Verfassungsschutzbehörden kiloweise Akten geschreddert wurden. Was wurde hier vertuscht und versteckt?
Während der vier Tage ging es jedoch nicht nur um die Täter und Täterinnen. Ibrahim Arslan, der den neonazistischen Brandanschlag in Mölln aus dem Jahr 1992 überlebt und damals seine Schwester, seine Cousine und seine Grossmutter verloren hat, nahm ebenfalls am Tribunal teil. Er erklärte, dass es nun wichtig wäre, die Opferperspektive zu stärken. Alle Welt würde vom Nazi-Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe reden, doch kaum jemand kenne die Namen der Opfer des NSU. Auch er mahnte, dass die lückenlose Aufklärung der Verbrechen bei weitem nicht stattgefunden habe. Am letzten Tag des Tribunals wurden Klage, Forderungen und ein «Manifest der Zukunft» veröffentlicht.
Vor rund einem Monat erfuhr die Öffentlichkeit, dass Falco A., Oberleutnant der deutschen Bundeswehr, offenbar Anschläge auf Politiker_innen geplant hatte – auch er handelte aus rechtsradikalen Motiven. Die Initiator_innen des Tribunals sehen sich durch diesen jüngsten Vorfall bestätigt und pochen darauf, vor brauen Flecken innerhalb der Staatsstrukturen nicht die Augen zu verschliessen. Ob das Tribunal einen realen Einfluss auf den Verlauf des NSU-Gerichtsverfahrens in München haben wird, bleibt abzuwarten.
- Esther Dischereit ist Lyrikerin, Essayistin, Erzählerin sowie Theater- und Hörspielautorin. Von 2012 bis 2013 war sie Beobachterin des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags. Aktuell lehrt sie in Charlottesville an der University of Virginia in den USA. Beim Tribunal in Köln präsentierte Esther Dischereit zusammen mit der deutsch-türkischen Musikerin und DJane Ýpek Ýpekçioðlu ihr Buch «Blumen für Otello –Über die Verbrechen von Jena« (2014). Siehe Archipel Nr. 245, Februar 2016
- Kutlu Yurtseven ist Mitglied der Rap-Gruppe «Microphone Mafia«, die gemeinsam mit der Sängerin und Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano vor kurzer Zeit auf Einladung des Europäischen BürgerInnenforums in Südfrankreich auf Konzertreise unterwegs war. Archipel berichtete.