WALD / RUMÄNIEN: Der Ast, auf dem wir sitzen

von Janinka Lutze, EuroNatur Stiftung, 15.01.2022, Veröffentlicht in Archipel 310

In Rumänien fallen unsere letzten Ur- und Naturwälder in einer unfassbaren Geschwindigkeit den Kettensägen zum Opfer. Seit etwa zwei Jahren läuft aus diesem Grund bereits ein EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Rumänien, doch nichts hat sich geändert. Tag für Tag verschwindet mehr Wald – und damit auch die Heimat unzähliger Tier- und Pflanzenarten – ein einzigartiges Naturerbe.

Alte Wälder, die über Jahrtausende vom Menschen fast unberührt gewachsen sind, gibt es in Europa nur noch sehr wenige. Solche Ur- und Naturwälder sind gleichzeitig Hotspots der Biodiversität und grosse Kohlenstoffspeicher. Damit sind sie sehr wichtig für den Schutz von Klima und Biodiversität. Etwa ein Drittel der Ur- und Naturwälder der gemässigten Klimazone Europas befinden sich in Rumänien. Ausserdem beherbergt das Land noch etwas über 500.000 Hektar potentieller Ur- und Naturwälder laut der Primofaro-Studie („Potential Primary and Old-Growth Forest Areas in Romania“) von EuroNatur aus dem Jahr 2019. Doch diese Wälder stehen unter stetigem Druck und werden tagtäglich weiter abgeholzt – selbst in Schutzgebieten. Und mit jedem entnommenen Baum wachsen die Kahlschläge und schrumpfen die letzten Urwälder Europas.

Verschlechterungsverbot

Schon seit Jahren verfolgen NROs (Nicht-Regierungs-Organisationen) mit wachsender Besorgnis, wie diese wertvollen Wälder auch in Schutzgebieten wie etwa Nationalparks und Natura 2000-Gebieten sowie nahe UNESCO-Weltnaturerbestätten vernichtet werden. Natura 2000-Gebiete sind Teil eines EU-weiten Schutzgebietsnetzwerks. Damit sind EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, die hierfür bestehenden Richtlinien einzuhalten und in ihrer nationalen Gesetzgebung umzusetzen. Teile dieser EU-Richtlinien bestehen darin, dass jeder Mitgliedsstaat die in der Direktive definierten Lebensräume (darunter auch Ur- und Naturwälder) unter Schutz stellt und sicher geht, dass diese in einem guten ökologischen Zustand bleiben oder in einen solchen zurückgeführt werden, falls sie bereits beeinträchtigt sind. Es gilt das so genannte „Verschlechterungsverbot“. Umweltschutzorganisationen wie EuroNatur und Agent Green haben 2019 und 2020 mehrere Klagen bei der EU eingereicht, da Rumänien diese Vereinbarungen nicht einhält. Im Februar 2020 wurde die EU-Kommission aktiv und startete ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Rumänien. Das Land wurde aufgefordert, seine Gesetze so anzupassen, dass die Wälder in den Natura-2000-Gebieten nach EU-Recht vollständig geschützt sind. Doch die Naturschutzorganisationen konnten in den letzten Jahren weitere Beweise dafür sammeln, dass in den Gebieten weiterhin massiv abgeholzt wird. So wurden im Sommer 2021 beispielsweise grosse Kahlschläge im Domogled-Natura-2000-Gebiet entdeckt, welches gleichzeitig Rumäniens grösster Nationalpark ist. Die Kahlschläge befinden sich sehr nahe der Kernzone sowie der UNESCO-Weltnaturerbestätten (1) und betreffen sehr alte Ur- und Naturwälder mit herausragender biologischer Bedeutung.

Rumänien ist ausserdem Heimat der grössten Populationen von Bären, Wölfen und Luchsen in Europa. Zudem sind die Ur- und Naturwälder Lebensraum für viele weitere endemische und seltene Arten, wie Auerhuhn (Tetrao urogallus), Dreizehenspecht (Picoides tridactylus) oder der Käfer Eremit (Osmoderma eremita). Doch die massiven Abholzungen bedrohen nicht nur ihre Lebensgrundlage; auch die ökologische Konnektivität (2) zwischen den Lebensräumen wird gefährdet, was zur Isolation von Populationen führen kann und die genetische Variabilität vermindert. Für den Erhalt der Biodiversität sind unsere letzten Ur- und Naturwälder unverzichtbar. Das gilt ebenso für den Klimaschutz, denn alte Wälder sind Kohlenstoffsenken der Superlative.

Ein gefährlicher Trugschluss

Leider basieren grosse Teile der Abholzungen auf einer verdrehten Wahrheit: Biomasse aus Holz wird als „grüne Energie“ gepriesen. Doch dies ist ein Trugschluss in zweierlei Hinsicht: Wälder wachsen zwar nach, doch die Biodiversität und natürlichen Kreisläufe gehen für viele Jahre, wenn nicht sogar unwiederbringlich verloren. Beim Verbrennungsvorgang werden Unmengen an Co2 freigesetzt, für deren erneute Speicherung der Wald erst wieder über Jahrhunderte nachwachsen muss. Es wird also bei der Verbrennung von Holz in sehr kurzer Zeit sehr viel CO2 – eben jenes, welches in den Bäumen gespeichert war – freigesetzt. Zusätzlich wird auf den Flächen, auf denen der Wald stand, auch das in der Erde gespeicherte CO2 ohne Bewuchs zu grossen Teilen wieder freigegeben. Die erneute Speicherung dieser Mengen an CO2 dauert dagegen viele Jahrzehnte.

Dies zeigt deutlich, dass Energiegewinnung aus Holzbiomasse – insbesondere, wenn es sich um Holz aus alten Wäldern handelt – nicht nachhaltig ist und so auch nicht dargestellt werden sollte. Deshalb setzen sich die verbündeten Naturschutzorganisationen dafür ein, dass Energiegewinnung aus Holzbiomasse zukünftig nicht mehr auf die „Erneuerbare-Energien-Ziele“ angerechnet werden dürfen. Derzeit findet eine Überarbeitung der Erneuerbare-Energie-Richtlinie der EU (RED - Renewable Energy Directive) statt, so dass der Zeitpunkt für diese Forderung günstig ist. Insbesondere Holz aus Ur- und Naturwäldern darf nicht für einen kurzfristigen Energiegewinn verbrannt werden. Alte Wälder müssen unberührt bleiben, bis die Bäume von alleine vergehen und der Kreislauf von neuem beginnt!

Ein weiterer grosser Teil des in den letzten Ur- und Naturwäldern gewonnenen Holzes wird für die Produktion von Spanplatten und billigen Möbeln verwendet. Trotz des illegalen Einschlags gibt es keine juristischen Konsequenzen für die Holzfirmen. Derweil behaupten die rumänischen Behörden weiterhin, dass in den Ur- und Naturwäldern des Landes alles unter Kontrolle ist. Tatsächlich gab es Gesetzesänderungen, doch leider stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, dass diese keine positiven Auswirkungen haben und die Wälder weiterhin abgeholzt werden. Dies belegt auch das nationale Nachverfolgungssystem für Holztransporte namens SUMAL 2.0, ein Onlineprogramm mit integrierter App. Hier kann man für die jeweils drei zurückliegenden Tage nachverfolgen, in welchen Gebieten Holztransporte stattgefunden haben. Die App zeigt das enorme Ausmass: Rund 45.000 Transporte pro Tag sind hier registriert! Die Fotos, die die Fahrer hochladen müssen, zeigen teilweise meterdicke Stämme sehr alter Bäume – die mit aller Wahrscheinlichkeit aus Schutzgebieten stammen. Und SUMAL 2.0 zeigt nur die Transporte, die offiziell registriert sind! In den knapp zwei Jahren seit Beginn des EU-Vertragsverletzungsverfahrens hat sich also nichts Grundlegendes in Rumänien geändert. Nun müsste die Europäische Kommission endlich den nächsten Schritt machen und die rumänischen Behörden vor den Europäischen Gerichtshof bringen. Beweise, dass die Paradieswälder in Rumäniens Natura-2000-Gebieten und anderen Schutzgebieten nicht ausreichend geschützt sind, gibt es genug.

Janinka Lutze, EuroNatur Stiftung

  1. Weltnaturerbe „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas“.
  2. Konnektivität: Fähigkeit von Systemen, eine Verbindung herzustellen